Portrait

The Back, 2011, Chromogenic Print, 45 x 57 inches; 114 x 145 cm, Courtesy die Künstlerin und Matthew Marks Gallery, New York
Textauszug
Man GoldinDie Bilder, die auf diese Weise in ihrem sozialen Umfeld entstehen, zeigt Nan Goldin in der Folge am Liebsten in Form einer Diaschau. Sie stellt die einzelnen Aufnahmen, im Ganzen etwa 700, zu wechselnden Sequenzen zusammen, unterlegt sie mit Musik, von der »Casta Diva« –Arie aus Bellinis Oper »Norma«, gesungen von der unvergleichlichen Callas, bis hin zu Lou Reeds Song-Manifest einer ganzen Generation, »I´ll be your mirror«, von Nico und Velvet Underground eindrücklich vorgetragen. In der Allianz von Bild und Ton ergibt sich die Vorform eines Films. Ein Eindruck, zu dem auch die narrative Struktur der Fotoserien ganz wesentlich beiträgt. Auf diese Weise entsteht das wohl bekannteste Kunstwerk der Künstlerin: »The Ballad of Sexual Dependency« – Die Ballade von der sexuellen Abhängigkeit. Den Titel, der ebenfalls das erzählende Moment der Diaschau betont, hat Nan Goldin aus Bertolt Brechts »Dreigroschen-Oper« entlehnt. Die Bilder für die Präsentation fotografiert sie in der Mehrzahl zwischen 1978 und 1986. Aber es kommen immer neue hinzu. Sie präsentieren eine Art Tagebuch ihrer »family« oder auch ihres »tribe«, wie die Künstlerin später sagen wird »I was one of the first people, at least in the Western world to photograph my entourage and say that it was as valid as photographing any exotic tribe you don´t know. We were the world to each other. We were not marginalized people as everyone writes of us; outsiders, drug addicts, prostitutes, transvestites, blah, blah.« Das Mittel der Wahl für die Aufnahmen, die jeweils
5 Sekunden gezeigt werden, in stets anderer Reihenfolge und Auswahl, ist der Schnappschuss, den Nan Goldin in höchsten Tönen preist. Er ist für sie die feinste Form der Fotografie, bürgt er doch für Unmittelbarkeit und wird getragen von der Liebe und dem Wunsch nach Erinnerung an Menschen, Orte und Zeiten. Schnappschüsse, so die Künstlerin, wollen Geschichte schreiben, indem sie Geschichten erzählen. Genau darum geht es in »Die Ballade von der sexuellen Abhängigkeit«. Sie wird 1979 zum ersten Mal im Mud Club in New York gezeigt und gewinnt in weiteren Aufführungen zunehmend an Popularität. 1984 präsentiert Goldin ihre Diaschau im renommierten Moderna Museet in Stockholm, 1986 auf den Berliner Festspielen und 1991 im Museum of Modern Art in New York.
Die endgültige Nobilitierung ihrer »family« gelingt ihr, als sie 2010 eine einmalige Gelegenheit erhält: Das Privileg allein, nur begleitet von einem Kurator und einer Assistentin, den Pariser Louvre zu besuchen und seine Kunstwerke, ungestört von den üblichen Besucherströmen, in Augenschein nehmen und fotografieren zu dürfen. Goldin ist geblendet von den Schätzen an Gemälden und Skulpturen dort und von den Geschichten, die sie erzählen. Die Werke von Cranach, Dürer, Rembrandt, Tizian und Bernini, von Delacroix, Géricault, Corot, Ingres, Courbet und anderen, die sie im Louvre fotografiert, beeindrucken sie nicht nur durch ihre überwältigende Darstellungskunst. Sondern sie findet in den mimischen und gestischen Ausdrucksformen, welche die Künstler den Emotionen ihrer Helden gegeben haben, eine auffällige Nähe zum Verhaltenrepertoire ihrer eigenen Protagonisten. Die Art, wie Menschen trauern und Schmerz empfinden, wie sie Triumphe feiern und sich lustvoll umarmen, ändert sich über die Zeiten hinweg wenig. Eine Beobachtung, die ja auch der Entdeckung des kunstgeschichtlichen Begriffs der »Pathosformel« von Aby Warburg zugrunde liegt. In ihrer im selben Jahr entstehenden Diaschau »Scopophilia« (2011), im Deutschen für »Die Lust am Schauen«, macht Nan Goldin diese Nähe augenfällig, indem sie ihre alten Fotografien, viele davon aus »Die Ballade von der sexuellen Abhängigkeit«, zusammen mit ihren neuen Aufnahmen aus dem Louvre zeigt. Sie sind gegenwärtig in einer von Lotte Dinse kuratierten, großartigen Einzelausstellung der Künstlerin in der hannoverschen kestnergesellschaft zu sehen. Die Allianzen, die auf diese Weise entstehen, sind atemberaubende Augenöffner. Nicht nur, weil Malerei und Fotografie hier einander sehr nahe kommen, nicht nur weil Goldins Aufnahmen so malerisch und die Gemälde so erzählend sind. Sondern eben auch, weil über die Zeiten hinweg ein heutiger Kuss aus einem früheren, eine Umarmung aus einer früheren zu folgen scheinen. Eine einzige, ewige, sich gleich bleibende Verwandlung. Nur logisch, dass Nan Goldin den Bildern ihrer Diaschau eine Sopranstimme unterlegt hat, die in lateinischer Sprache Ausschnitte aus Ovids »Metamorphosen« singt, während die Künstlerin in dem Soundtrack von ihrer Begegnung mit den Werken im Louvre berichtet.
Es ist dieses schon von Arthur Schopenhauer beobachtete »semper idem«, die Einsicht, dass die conditio humana sich nicht ändert, wir in wechselnden Masken und Kostümen immer wieder dieselben alten Menschenspiele aufführen, was die Bilder der »Ballade«, die zur Zeit ihrer Entstehung von vielen Betrachtern als provozierend und in der Exponierung von Intimität als anstößig empfunden wurden, durch ihre neue Kontextualisierung endgültig und unübersehbar in den Status von Klassikern erhebt. Diesen Eindruck forciert Nan Goldin noch durch die Freistellung und Herauslösung von Diptychen und Polyptychen, letztere nennt sie »Grids«, Bildgitter, aus ihrer Diaschau. In ihnen visualisiert sie bestimmte Themen und Ausdrucksformen. »The Back« (2011-2014) ist ein aus zwölf Fotografien zusammengesetztes Bildgitter, in dem Rückenansichten aus dem Louvre, u. a. eine fabelhafte Skizze von Géricault und eine antike Plastik, mit denen von Goldins Protagonisten konkurrieren. Dabei vereinen sie sich zum überzeitlichen Tableau einer Charakteristik von Rücken und Schultern, die in Goldins Ensemble zu Metonymien dessen werden, was der Mensch im Laufe seines Lebens zu tragen hat und zu tragen vermag. Oder »The Odalisque« (2011), ein Bildgitter aus
16 Einzelaufnahmen historischer und zeitgenössischer Ansichten weiblicher Schönheit. In ihm gehören die Gemälde von Jean Auguste Dominique Ingres aus dem 19. Jahrhundert sicher zu den bekanntesten Odalisken, sprich Haremsdamen, denen die Freundinnen von Goldin in Anmut und Grazie indes in nichts nachstehen. Prononciert nimmt die Künstlerin in den Diptychen ihr jeweiliges Sujet in den vergleichenden Blick. In »The Nap« (2010) zeigt sie zwei schlafende, genauer miteinander schlafende Frauen. Zum einen »Kat and Sarah embracing, Hudson NY« (2006) aus Goldin`s »family«, zum anderen die wollüstigen, nackten, sich aneinander schmiegenden Frauenkörper von Gustave Courbet in seinem Gemälde »Le sommeil« (1866), das zu seiner Zeit nicht weniger Skandal gemacht hat als anfangs Goldins Aufnahmen, weil es eines der ersten Bilder der Kunstgeschichte war, das die körperliche Liebe von Frauen zum Thema hatte.
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