Artist Ausgabe Nr. 108
Portraits
Sebastian Dannenberg | Achim Riethmann Anja Schrey Lea v. Wintzingerode Ulrich Wulff | Taiyo Onorato & Nico Krebs | Andreas SlominskiPortrait

Horst Müller, Das Rendezvous /Zwei Werkstattuhren, 1985/2001, 30 × 54 × 6 cm, Installation: Atelier Horst Müller, Bremen, Privatbesitz, Foto: Horst Müller © VG Bild-Kunst, Bonn 2016
Textauszug
»Echtzeit – Die Kunst der Langsamkeit«Das erste, was dem Besucher beim Betreten der Ausstellung »Echtzeit« im Kunstmuseum Bonn entgegenkommt, ist eine über Lautsprecher verstärkte, zählende männliche Stimme. Sie zerlegt dabei jede Zahl in ihre einzelnen Silben – und jede Silbe dauert eine Sekunde. So kommt es, dass das achtstündige Band »Nine to Five-Job« von Ignacio Uriarte bei der Zahl 3.599 endet und nicht bei 28.800, der exakten Anzahl der Sekunden eines 8-Stunden-Tages. Das metronomisch exakte Zählen hinkt der Zeit hinterher und ruft den Eindruck einer Zerdehnung wie bei einer Zeitlupe hervor. »Nine to Five-Job« spiegelt ziemlich genau die Diskrepanz zwischen der gleichmäßig voranschreitenden absoluten Zeit und ihrem subjektiven Empfinden. Das Vergehen der Zeit erscheint in diesem Fall quälend träge, sie erstickt in der Monotonie des Sekundentakts. Der Ausstellungsbesucher wird buchstäblich auf das Thema eingestimmt, auch wenn die Stimme irgendwann nicht mehr zu hören ist, aber am Ende des Parcours kehrt er unweigerlich wieder zu ihr zurück.
Kaum überraschen dürfte die Tatsache, dass bei der Untersuchung des Phänomens Zeit immer wieder Uhren eine große Rolle spielen. Auf den Uhren Bettina Pousttchis ist es immer 5 Minuten vor 14 Uhr. Aber da es sich um Uhren aus allen 24 Zeitzonen handelt, die Pousttchi fotografiert hat, ist es doch nie dieselbe Zeit. Andererseits unterscheiden sich die Uhren der Serie »World Time Clock« gar nicht so sehr, wie man vielleicht meinen könnte. Die Uhren sind eine sehr anschauliche Metapher der globalen Kapitalisierung. Dies wird unterstrichen durch eine stark abstrahierende, gerasterte Aufnahmetechnik in Schwarzweiß, die sie nicht nur einander angleicht, sondern auch eine Bewegung in der Horizontale wie bei einem Film suggeriert. Der Blick auf die Uhr wird zu einer imaginären Reise von Ort zu Ort rund um den Globus, während die Zeit seltsam erstarrt scheint.
Horst Müllers Doppeluhr ist ein Gegenstand zum Nachdenken über Zeit und Zeitmessung, deren Form bildet eine liegende Acht, das Unendlichkeitszeichen. Die Zeiger der Doppeluhr laufen synchron im Uhrzeigersinn, der Norm entsprechend. »Das Rendezvous« nennt Horst Müller diese Arbeit, er hat die Uhr gespiegelt und das Spiegelbild teilweise wieder entspiegelt. Eine Doppeluhr, die zwei Zeiten misst. Die rechte Uhr zählt vorschriftsmäßig vorwärts, Richtung Zukunft, hingegen zählt die linke Uhr rückwärts und dringt in die Vergangenheit ein. Obwohl beide Uhren laufen, die eine in die Zukunft, die andere in die Vergangenheit, ist die reale Zeit nicht messbar, sie bleibt konstant, denn die Summe beider Zeigerstellungen ergibt immer zwölf. An welchem Punkt befinden wir uns – Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft? Hat Zeit weder Anfang noch Ende? Tradierte Vorstellungen von Zeit geraten auf lakonische wie subtile Weise ins Wanken.
Zum Klassiker avancierte inzwischen das Video »Standard Time Rotterdam« von Mark Formanek, der ebenfalls mit Echtzeit, aber diesmal über einen vollen 24-Stunden-Tag arbeitet. Dieses Video ist tatsächlich auch als Uhr einsetzbar. Man kann es über eine DVD erstehen, die mit dem Computer synchronisiert wird. Die Zeit wird wie bei einer Digitaluhr angezeigt, nur dass diese Digitaluhr über eine 4 x 12 Meter große Zeitanzeige verfügt, deren Ziffern aus Holzlatten bestehen, die mit Hilfe eines zweigeschossigen Gerüsts permanent manuell umgebaut werden. Es ist urkomisch anzusehen, wie die vergleichsweise klein wirkenden Arbeiter auf dem Gerüst herumturnen und sich hektisch bemühen, die Ziffern in Übereinstimmung mit der korrekten Uhrzeit zu halten, ohne jemals fertig zu werden. Kaum sitzen die Holzlatten korrekt an Ort und Stelle, ist wieder eine Sekunde vergangen und die Stege der Ziffern müssen erneut versetzt werden. Dabei hat sich der Mensch dieses ständige der Zeit Hinterherjagen selbst eingebrockt: Die exakte und verbindliche Uhrzeit wurde erst im 19. Jahrhundert eingeführt, natürlich um die modernen Arbeitsformen im Zuge der Industrialisierung effektiver zu machen. Das Prinzip der Synchronizität ist ein neuzeitliches Phänomen. Bei Mark Formaneks genialer Performance kann man schon ins Grübeln geraten, ob die Arbeiter die Zeit oder die Zeit die Arbeit erzeugt. (»Echtzeit – Die Kunst der Langsamkeit«, Kunstmuseum Bonn, bis zum 4. September 2016.)
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