Interview

Installationsansicht, Ostalgie, 2019, KOW, Berlin, Foto: Ladislav Zajac,
Courtesy Henrike Naumann und KOW, Berlin

Textauszug

Henrike Naumann
DRUCK: »Die Urform allen Wohnens ist das Dasein nicht im
Haus, sondern im Gehäuse. Dieses trägt den Abdruck seines
Bewohners«, notiert Walter Benjamin in seiner unvollendet gebliebenen
»Passagen-Arbeit« (1927 – 1940), und zwar in dem von dem
Herausgeber Rolf Tiedemann »das Interieur, die Spur« betitelten
Abschnitt. Um eben diese »Abdrücke» und »Spuren« in Interieur
und Mobiliar nun geht es, wie wir in der Folge sehen werden, immer
wieder in der künstlerischen Arbeit der jungen Berliner Künstlerin
Henrike Naumann, die, wie sie selber sagt, mit dem Medium Möbel
»über die Gesellschaft sprechen will«. Dieses geschieht dann meist
dadurch, dass sie die Bewusstseinslage von gesellschaftlichen Gruppen
im skulptural-installativen Prozess sowohl nachzuvollziehen wie (sich)
vorzustellen versucht.

REICHtum: Deutlich ablesbar ist diese künstlerisch-dekonstruktive
Strategie zum Beispiel an Naumanns Beitrag »Das Reich«,
2017, für den 3. Berliner Herbstsalon des Gorki Theater 2017. Im
Kronprinzensaal, also dort, wo der »Einigungsvertrag« 1990 zwischen
DDR und BRD abgeschlossen wurde, inszenierte Naumann ein beinahe
raumfüllendes Ensemble mit Mobiliar, das referierte auf eben die
Möbel, die sogenannte »Reichsbürger« und andere Neonazis in ihren
Wohnungen zuweilen aufzustellen pflegen. Genau die »Reichsbürger«
also, die den »Einigungsvertrag« nicht anerkennen, weil dort kein, wie
im Grundgesetz eigentlich vorgesehen, Friedensvertrag ausgehandelt
wurde, ergo das Deutsche Reich weiterhin noch besteht, und zwar
unter alliierter Besatzung. So fand sich dann in Naumanns Ensemble
prompt ein Tisch, dessen Fläche die Konturen des Deutschen Reichs
nachzeichnet. Außerdem erwartete den Besucher in dieser »völkischen
Kultstätte« u. a. ein Sessel mit Kunstfell und aufgelegten Kissen mit
Reichsadler, schwarze, fast schon martialische Schrankwände, die zu
Altären mit Nazi-Devotionalien werden, eine Puppe mit dem Aufdruck
»Böhse Ossis« auf dem Rücken, sowie gläserne Trinkhörner, die an
die vermeintlich heroische Zeit der Wikinger anspielen. Oft findet
die Künstlerin diese semantisch, ja ideologiekritisch aufgeladenen
Objekte auf Ebay und Flohmärkten, manchmal aber »bastelt« sie diese
auch selbst zusammen.

WIEDERvereinigung: Die Strategie der Überaffirmation,
die sowohl in »Ohne Titel« wie in »Das Reich« bereits
intensiv ausgetestet wird, findet sich zur Vollendung geführt in der
von Naumann auf dem steirischen herbst 2018 in Graz gezeigten
Installation »Anschluss ’90«, 2018, die dort sinnigerweise in einem
Raum im Grazer »Haus der Architektur« präsentiert wurde. Schon
am Schaufenster des an ein Ladenlokal erinnernden Raumes
wird diese Strategie der »Überfüllung« sofort nachvollziehbar,
denn dort hängt ein schwarz-rot-goldenes Neonzeichen, das
professionelle Werberhetorik und eine vollendet kontrafaktische
Geschichtsschreibung konzeptionell zu der Idee des »Anschluss ’90«
kombiniert, eine großdeutsche schwarz-rot-goldene Flagge unter dem
provokanten Slogan fällt da besonders ins überraschte (österreichische)
Auge. Wie heute wohl nur noch wenig bekannt, wurde schon der von
den Nationalsozialisten 1938 betriebene »Anschluss« Österreichs an
das Deutsche Reich als »Wiedervereinigung« bezeichnet – genauso wie
die »Wiedervereinigung« von der BRD und der DDR 1989/90 dann
60 Jahre später. Naumann spinnt in ihrer Installation diese historische
Narration fort und propagiert selbstbewusst und keineswegs ironisch,
wie diverse Kommentatoren behaupteten, den erneuten »Anschluss
’90«, der dem wieder erstarkten Neonationalismus in Europa
gelungen sei.

OSTalgie: In ihrer Ausstellung »Ostalgie« in der Berliner Galerie
KOW Anfang 2019 schließlich verlagert die Künstlerin die Perspektive
weg von der ästhetischen Untersuchung der Bewusstseinslage
einer Personengruppe und ihrer Mitglieder nun hin zu der Analyse
des Blicks von Außen auf das Leben von gesellschaftlichen Formationen,
genauer: auf die Bürger der ehemaligen Deutschen Demokratischen
Republik. Also spürt die übrigens noch in der DDR geborene
Naumann in ihrer dortigen Installation dem Phänomen der sogenannten
»Nostalgie« nach, wieder mit einer furiosen Inszenierung aus Videos,
Soundarbeiten, Originalmobiliar und Alltagsgegenständen aus der
DDR und der Zeit danach. Dabei will Henrike Naumann künstlerisch
vorführen, wie unser Bild von Ostdeutschland und dem gescheiterten
»real-existierenden Sozialismus« hervorgegangen ist aus der überaus klischeehaften
und ziemlich besserwisserisch-überheblichen Vermarktung
einer vermeintlich so trist-grauen wie uniformen Identität im damaligen
Osten Deutschlands, das also ein mentales Konstrukt ist, dem dann ein
»reales« Gegenüber (mehr oder weniger) fehlt. Selbstverständlich darf da
ein kitschiges, von falschem Pelz gerahmtes Erich Honecker-Porträt und
auch, als Ausdruck einer - unterstellten? - kollektiven DDR-Sehnsucht,
ein Werbedisplay der Zigarettenmarke »West« nicht fehlen.

Raimar Stange