Artist Ausgabe Nr. 130

Portraits

Ulla von Brandenburg | Renée Green | Alexander Steig | Harald Popp

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Anna Meyer

Portrait

Ausstellungsansicht/Installation view: »Ulla von Brandenburg. Eine Landschaft ohne Blau, wie ungefähr«, Weserburg Museum für moderne Kunst, Bremen, 2021, 11. Dezember 2021 bis 10. April 2022, Foto: Tobias Hübel

Textauszug

Ulla von Brandenburg
Ulla von Brandenburg schafft Raum füllende und Medien übergreifende Installationen und Inszenierungen. Selten trifft der Begriff Gesamtkunstwerk so zu wie bei dem Werk der in Paris lebenden Künstlerin. Ein Widerhall sakraler Architektur im Kunstraum der profanen Welt schwingt mit. Bevor das Wort Immersion inflationär in ästhetische Debatten einzog, überwältigten ihre Arbeiten. Doch bei aller sinnlichen Ansprache setzt ihre Kunst das Denken nie außer Kraft. Die Stoffe und Farben, Bühnen und Bewegungen schaffen körperhafte Resonanzen für taktile Blicke. Dabei rufen sie auch Distanzvermögen und Reflexion auf, erinnern an das Brechtsche Verdikt bloßen Einfühlens. Erkenntnis endet nicht mit Empfindung, sondern beginnt mit ihr und trägt sie unabdingbar in sich. Begreifen, was ergreift, bleibt vor diesen Arbeiten ästhetisches Kerngeschäft.

So einheitlich die Bremer Installation auch wirkt, jeder Raum, jede Gattung, jedes Material sprechen doch in eigenen Registern und lassen unterschiedliche Resonanzen zu. Raum und Objekt, stehende und bewegte Bilder fügen sich im Laufe des Ausstellungsgangs immer wieder neu zusammen, behaupten weiter ihren Eigensinn. Im Wechselspiel zwischen Leitmotiven und Variationen, in verschiedenen Rhythmen, Dynamiken, Klangfarben und Orchestrierungen erscheint die Rauminszenierung wie eine Partitur oder Choreografie. Die einzelnen Stationen der Ausstellung streuen zwar und bilden keine lineare Folge, dennoch ließe sich ein Raum wie eine programmatische Exposition lesen.

Tanz, das ist neben Stofflichkeit und Farbe ein zentraler Pfeiler dieser komplexen und zugleich klaren Position. Tanz in einer Form, die nicht nur unterschiedliche Haltungen und ästhetische Standards zusammenbringt, sondern auch verschiedene Situationen, Kontexte und Epochen. Tanz, das steht in von Brandenburgs Videos für den Körper als Kern und Fokus des gesamten mehrmedialen Auftritts. Die tänzerischen Aktionen in ihren Filmen sind nicht leicht einzuordnen. Sie finden an unterschiedlichen Orten, meist Naturschauplätzen statt. In einem Film scheint sich das Ensemble in einem kirchenähnlichen historischen Gebäude einzufinden.

In den filmisch festgehaltenen Tanzperformances geht es weniger um eine choreografisch übersetzte Geschichte, sondern um das Bewegungsgeschehen an sich. Ausdruck oder besser Ausagieren rücken individuelle Identität in den Fokus, bis singuläre Gesten und Gebärden in paralleles Geschehen inschwenken. Diese Vergemeinschaftungsaktionen ereignen sich in einem Außenraum zwischen Natur und Architektur, wie an einer antiken Versammlungsstätte, wo Chorisches und Choreografisches Gesellschaftliches und Politisches widerspiegeln und verhandeln. Historisch noch weiter zurückreichend, wirken die tänzerischen Aktionen zugleich wie rituelle Handlungen. Diese umkreisen allerdings mehr den menschlichen Innenraum als mystische Regionen oder himmlische Bezirke.

Ulla von Brandenburgs stoffliche und körperliche Welten sind nicht mit Wohlfühl-Refugien und Wellness für die Wahrnehmung zu verwechseln. Am Körper fließen die Codierungen der Identität zusammen. Er ist der Kampfplatz zwischen Individualität und Gemeinschaft, die letztgültige, unverfälschte Instanz für die Erfahrung von Reichweite und Rechtmäßigkeit des Politischen. Das Publikum, das sich in diesen Erlebnisräumen nicht bequem und distanziert im Parkettsessel niederlassen kann, steht mit auf der Bühne. Es ist ganz gemeint. Die Fragen greifen tief: Wie kommen wir unter dem Regime des Singulären eigentlich noch zusammen? Wohin wollen wir? Was wollen und können wir dafür tun? Woran knüpfen wir an? Was ist uneingelöst, was verzichtbar?

Rainer Beßling