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Artist Ausgabe Nr. 125
Portraits
Nora Olearius | Jean-Luc Mylayne | Marina Naprushkina | Michael MüllerInterview
Meike Behm, Direktorin der Kunsthalle Lingen, Vorsitzende der ADKV, Foto: Peter Lütje, Lingen
Textauszug
Meike BehmJ.Krb.: Sie studierten Kunstgeschichte, Klassische Archäologie und Neuere deutsche Literaturwissenschaft in Saarbrücken, Madrid und Frankfurt am Main. Von 1995 bis 2006 leiteten Sie das Ausstellungsprojekt »rraum« in Frankfurt/Main und Hamburg. Nach Tätigkeiten an der Schirn Kunsthalle und für die Manifesta 4 in Frankfurt/Main (2001-2002), arbeiteten Sie von 2006 bis 2008 als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Kunstverein in Hamburg. Seit 2009 sind Sie Geschäftsführerin des Kunstvereins Lingen und Direktorin der Kunsthalle Lingen. 2014 übernahmen Sie den Vorsitz der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Kunstvereine (ADKV). Träger der Kunsthalle ist der 1983 gegründete Kunstverein Lingen. Im Oktober 1997 wurde die Kunsthalle eröffnet. Gründungsdirektor war Heiner Schepers, der die Kunsthalle bis 2008 leitete. Was fasziniert Sie an zeitgenössischer Kunst, was macht für Sie das Spezifische dieser Erkenntnisform aus?
M.B.: Bis heute fasziniert mich der aufklärerische Geist, der über zeitgenössische Kunst vermittelt wird, der hingegen immer mit einem hohen Anspruch an Ästhetik einhergehen muss. Kunst sensibilisiert – auf eine eigene, ganz andere Weise als Philosophie, Soziologie, Theater, Musik oder Literatur – für die Relevanz von gesellschaftlich wichtigen Aspekten ihrer Zeit. Heute sind diese beispielsweise Migration, Postkolonialismus, Kapitalismus, Genderspezifische Fragen, Ökologie und Digitalisierung. Dabei beeindruckt mich weniger eine laute, auf Effekt angelegte und mit Vehemenz formulierte Formensprache, sondern ich denke, dass eine subtile Ausdrucksform viel mehr der Unsicherheit und Ungewissheit bezogen auf den heutigen Zustand der Welt entspricht. Einhergehend hiermit schätze ich es sehr, wenn Kunst zu Fragen anleitet und vielmehr auf sinnliche Weise in Metaphern formuliert als durch direkt ableitbare Symbole den Denk- und Erkenntnisprozess zu schnell beendet. Schön, dass Sie den Begriff »Erkenntnisform« nennen, denn auch das entspricht zeitgenössischer Kunst – eine Form der auf vielen Ebenen erfahrbaren Erkenntnis, also zur Sprache bringen und damit die Grenzen unserer Welt erweitern.
J.Krb.: Rollenspiele – Künstler*innen wechseln das Medium und schlüpfen in die Rolle von Kurator*innen. Thomas Huber und Bogomir Ecker waren 2001 eingeladen, die umfangreiche Sammlung des Museum Kunstpalast in Düsseldorf neu zu ordnen und zu präsentieren. Das Duo Michael Elmgreen und Ingar Dragset kuratierte den nordischen Pavillon in Venedig (2009) und die Istanbul-Biennale (2017), Olaf Metzel die Ausstellung »Circus Wols« (2012) im Museum Weserburg in Bremen, Thomas Demand die Ausstellung »L‘Image volée« (2016) in der Mailänder Fondazione Prada. Die Gruppe Fort kuratierte »Invitation to Love« (2020) im Kunstverein Bremerhaven, gerlach en koop »Was machen Sie um zwei. Ich schlafe« (2020) in der GAK in Bremen. Künstler*innen kuratieren Künstler*innen. Vom Künstler zum Kurator und wieder zurück - ein vorübergehender Rollenwechsel oder wird hier das Ausstellen bzw. Kuratieren zum genuinen Bestandteil künstlerischer Praxis?
M.B.: Die Geschichte des Ausstellungsmachens und die von Ihnen genannten Beispiele zeigen, dass ein kunsthistorisch oder kuratorisch ausgerichtetes Studium nicht die allein notwendigen und gültigen Voraussetzungen bilden müssen, um Ausstellungen gestalten zu können. Meine Erfahrung der Zusammenarbeit mit Künstler*innen bei der Gestaltung von Ausstellungen seit 1995 hat gezeigt, dass der Weg in Richtung einer qualitativ und inhaltlich niveauvollen und adäquat auf die Räume abgestimmten Präsentation – sei es in meiner eigenen Wohnung damals im rraum in Frankfurt am Main oder auch heute in der Kunsthalle Lingen – immer auch einem künstlerischen Arbeitsprozess ähnelt. Ausgehend von einer Idee über die Auswahl der Arbeiten und deren Präsentation im Raum im Zusammenhang mit diesem und allen Werken bis zum Ergebnis einer in sich stimmigen Ausstellung. Von daher kann der Weg ebenso vom Kurator zum Künstler und zurück gehen, doch meist hat sich eine gemeinsame Herangehensweise – der*die Künstler*in gestaltet mit seiner*ihrer Erfahrung und der*die Kurator*in mit seiner*ihrer Erfahrung – bisher als sehr fruchtbar erwiesen. Letztendlich bleibt aber eine Ausstellung eine Ausstellung und ein Kunstwerk ein Kunstwerk, auch wenn beide ideelle Werte vermitteln.
J.Krb.: Sie zeichnen in Lingen für eine Vielzahl von monografischen und thematischen Ausstellungen verantwortlich, zum Beispiel: Susa Templin, Bettina von Arnim (2020), Ian Kiaer, Nel Aerts, Kerstin Cmelka (2019), Erika Hock, Antje Majewski (2018), Isabel Albrecht, Diango Hernández, Flaka Haliti (2017), Tomas Schmit, Silke Schatz, Charlie Jeffery (2016), David Jablonowski, Jagoda Bednarsky, Marieta Chirulescu (2015), Matthew Ronay, Alexander Wolff, Michael Pfrommer (2014), Judith Hopf, Thea Djordjadze (2013), Sarah Pelikan, Haegue Yang und Rivane Neuenschwander (2012), Olivier Foulon, Victor Man und Dan Perjovschi, Suse Weber (2011), Ruth May und Susanne M. Winterling, Albert Mertz, Lone Haugaard Madsen und Lasse Schmidt Hansen (2010), Mandla Reuter (2009) oder thematische Ausstellungen wie »Schluss mit Reden, spielen wir!« (2019), »Lilia & Tulipan« (2018), »Das Muster, das verbindet« (2014) oder »Der offene Garten« (2010). Sie gaben mit Arbeiten der Künstlerin Marjetica Potr? (2009) Ihren Einstand. Welche Ausstellung steht paradigmatisch für Ihr Verständnis kuratorischer Arbeit?
M.B.: Letztendlich natürlich jede, denn jede von ihnen vermittelt künstlerisch formulierte Inhalte, die zur Zeit ihrer Präsentation relevant waren. Einerseits war es mir von Beginn meiner Tätigkeit in Lingen an ein wichtiges Anliegen, den Ruf der Kunsthalle international auszubauen. Weiterhin zeigt Ihre Aufzählung, dass es mir immer auch wichtig war und ist, verstärkt die Arbeit von Künstlerinnen zu vermitteln, da diese nach wie vor in der Kunstwelt unterrepräsentiert sind. Innerhalb der Kulturlandschaft in Lingen bildet die Kunsthalle die einzige Institution, die überwiegend Kunst von national und international bekannten Künstler*innen präsentiert. Von daher bieten wir weniger Künstler*innen ein Forum, die noch nicht in der Kunstszene etabliert sind, sondern stellen immer auch Kunst von Künstler*innen aus, die bereits auf der documenta, der Manifesta oder der Biennale in Venedig präsent waren. Einhergehend damit ist mir die innenarchitektonische Veränderung der Räume der Kunsthalle bei der Konzeption und Realisation von Ausstellungen wichtig, denn oft zeigen wir eigens für den Ort konzipierte Werke, die raumgreifend sind und eher körperlich als rein visuell erfahrbar – bisher wohl am radikalsten 2012, als ein begehbarer Farbfeldraum der Künstlerin Sarah Pelikan den Raum dominierte.
J.Krb.: Für die einen ist Malerei nach wie vor die Königsdisziplin, für andere ist Malerei Flachware, marktkonform und als Medium gering zu schätzen. Jahrelang mussten wir uns das Diktum vom Ende der Malerei anhören. Dann wird plötzlich vom Siegeszug der Malerei gesprochen, die wie der Phönix aus der Asche wieder aufgetaucht sei. Wird in Lingen der Diskurs über Malerei in der ihr gebührenden Selbstverständlichkeit geführt?
M.B.: Dieser Diskurs wird anhand der Präsentation von Malerei einzelner Künstler*innen sowohl der Träger*innen des Lingener Kunstpreises als auch durch Ausstellungen von Malerei anderer Künstler*innen immer mal wieder werkimmanent und vor dem Hintergrund der Tradition geführt, die dieses Medium hinterfragt. Allerdings bildet Malerei keineswegs den Schwerpunkt des Ausstellungsprogramms.
J.Krb.: Mitunter lassen Vermittlungsprogramme die Köpfe der Besucher brummen oder vereinfachen komplexe Sachverhalte in populistischer Manier. Derzeit sind niedrigschwellige Angebote angesagt. Jede*r soll teilhaben, jede*r soll mitgenommen werden, als würde die Kunst aus uns bessere Menschen machen. Wird die Kunst auf diese Weise zum Heilsbringer, warum betreiben Sie Kunstvermittlung?
M.B.: Zum einen, um die Inhalte, die die jeweils ausgestellten Werke thematisieren, an ein breitgefächertes Publikum auf vertiefende Weise zu vermitteln. Zum anderen, um einen Bildungsauftrag zu erfüllen und ein heute vor allem in Bezug auf Kultur unzureichendes Bildungssystem durch Schulung im Denken und Sehen zu ergänzen. Das kann, je nach Zielgruppe, auch auf niedrigschwellige Art geschehen. Hingegen ist es meiner Meinung nach unklug, den Bildungshorizont des Publikums zu unterschätzen. Im Rahmen von Vermittlung gilt es vielmehr, die Besucher*innen ernst zu nehmen und eher zu über- als zu unterfordern. Eine weitere Motivation liegt in der Aufklärung darüber, dass Kunst weniger der reinen Unterhaltung dient, als vielmehr eine Ausdrucksform ist, die bereits seit 40.000 Jahren die Welt reflektiert.
J.Krb.: Oftmals betonen Kunstvereine mit Stolz in ihren Pressemitteilungen, es handele sich um die erste institutionelle Einzelausstellung der Künstler*innen. Klingt zunächst gut, ist aber inzwischen zu einem inflationären Hinweis geworden. Kann man in unserem digitalen Zeitalter noch für sich exklusiv beanspruchen, eine*n Künstler*in entdeckt zu haben?
M.B.: Ob es durch eine »erste institutionelle Einzelausstellung« in einem Kunstverein gelungen ist, eine*n Künstler*in entdeckt zu haben, zeigt sich ja immer erst Jahre später, wenn sie*er weiterhin durch Ausstellungen in renommierten Institutionen präsent ist. Hingegen trägt meiner Erfahrung nach die Begegnung mit dem Original eher dazu bei als eine alleinige Präsenz und zahlreiche Fans auf Social Media Kanälen, wie beispielsweise Instagram.
J.Krb.: Museen, Kunstvereine, Galerien, Messen setzen in CoronaZeiten verstärkt auf digitale Formate. Können diese Formate den realen Besuch von Ausstellungen ersetzen, wird die körperliche Erfahrung und Empfindung wesentlich bleiben und ist nach der vorübergehenden Schließung der Kulturinstitute ein Hunger nach unmittelbar erlebbarer Kunst zu beobachten?
M.B.: Nein, diese Formate können keineswegs den Besuch realer Ausstellungen ersetzen, denn jede Einzel- oder Gruppenausstellung oder auch Präsentation von Sammlungen in Museen wird in Korrespondenz mit den jeweiligen Ausstellungsräumen gestaltet. Sowohl die Technik der Kunstwerke als auch ihr ideeller Wert und vor allem die physische Aura und Haptik von Kunst einhergehend mit körperlicher Erfahrung und Empfindung vermittelt sich allein über eine reale Begegnung mit dem Original und ist virtuell unmöglich. Nicht nur wir in Lingen haben diesen Hunger nach unmittelbar erlebbarer Kunst beobachtet, als nach dem Lockdown Kunstvereine, Museen und Galerien wieder öffnen durften.
J.Krb.: Auf der Jahreshauptversammlung der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Kunstvereine wurden Sie 2014 zur neuen Vorsitzenden gewählt und folgten René Zechlin. Die ADKV vertritt als Dachverband rund 300 Kunstvereine, umfasst Vereine mit 100 und andere mit 10.000 Mitgliedern, einige mit ausschließlich ehrenamtlichen Mitarbeiter*innen und andere mit mehreren festen Stellen, die einen sind wenige Jahre jung, andere feiern schon mal 175sten Geburtstag. Ein höchst disparates Umfeld. Was sind die zentralen Aufgaben der Arbeitsgemeinschaft?
M.B.: Gegründet vor 40 Jahren, ist die Arbeitsgemeinschaft Deutscher Kunstvereine (ADKV) nach wie vor Mittlerin zwischen Kunstvereinen, der Politik und Medien, und sie vertritt vor allem die traditionsreiche und nach wie vor wichtige kulturpolitische Bedeutung ihrer aktuell 300 Mitglieder. Sie verbindet diese durch ein umfangreiches Netzwerk, bietet ein gemeinsames Internet- und Presseportal und vertritt ihre Interessen in politischen Gremien, gegenüber Zuwendungsgebern sowie auf der Kunstmesse Art Cologne. Gemeinsam mit dieser vergibt die ADKV jährlich einen Preis für Kunstvereine und einen für Kunstkritik. In Kooperation mit der University of Minnesota vermittelt die ADKV Praktika für Studierende aus den USA an Kunstvereine. Aktuell diskutieren wir, wie wir dafür sorgen können, dass die Kunstvereine auch in Zeiten nach der Corona Krise existieren werden und dafür unverzichtbare Mittel auch weiterhin fließen. Lobbyarbeit ist zurzeit wichtiger denn je und diese zeigt sich unter anderem in der Bemühung der ADKV darum, dass die Kulturform Kunstverein einen Eintrag in die Liste immaterielles Kulturerbe der Unesco erhält.
J.Krb.: Insbesondere sorgen das Bild »Ziegelneger« von Georg Herold, Ausstellungen mit John Rafman und die Ku-Klux-Klan-Bilder von Philip Guston für Aufregung und kontroverse Debatten: rassistisch oder antirassistisch, verschieben oder absagen, abhängen oder kontextualisieren. Wie sehen Sie das?
M.B.: Auf keinen Fall abhängen, verschieben oder absagen, sondern durch Vermittlung und vor allem Diskurs kontextualisieren und jeden Fall einzeln betrachten. Es gilt, den wohlmeinenden Kritiker*innen auch zu sagen, wo sie falsch liegen, wenn sie falsch liegen. Es lässt sich aber auch nicht jeder Konflikt auflösen.
J.Krb.: Kehren wir nach Überstehen der Corona-Pandemie zur alten Normalität zurück? Im Kunstbetrieb kommen Zweifel auf: Braucht es die vielen Biennalen, Messen, Blockbuster, Netzwerke. Auch ist die Rede von Nachhaltigkeit und ökologischem Fußabdruck der Museen. Eine Spur von Demut scheint auf oder gilt Business as usual. Wollen Sie eine Prognose wagen?
M.B.: Kunst aus jeder Zeit lebt und wirkt vor allem durch und über Ausstellungen, durch das Gespräch und die Diskussion über ihre jeweiligen Themen, und die Künstler*innen brauchen Geld für Miete, Strom, Gas. Von daher sind auch in Zukunft unterschiedliche Arten ihrer Vermittlung und ihres Verkaufs notwendig und rein digitale Formen sind keine Lösung. Trotzdem gilt es in Bezug auf den Klimawandel umzudenken, denn auch in dieser Hinsicht sind kulturelle Institutionen Vermittler von Aufklärung und Bildung.
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