vergriffen
Artist Ausgabe Nr. 96
Portraits
Doris Weinberger | Rachel Harrison | Tobias Zielony | »Kaboom! Comic in der Kunst« | Nachruf auf den Maler Norbert Schwontkowski | Martín MelePortrait
Hoarders, 2012, Holz, Styropor, Maschendraht, Zement, Pappe, Acryl, Metalleimer, Flachbildschirm, kabellose Kopfhörer, Video, lila Teppich, Abmessungen variabel , 154,9 x 119,4 x 114,3 cm, (Skulpturkörper), Courtesy die Künstlerin und Greene Naftali, New York
Textauszug
Rachel HarrisonNicht weniger befremdlich erscheint »Hoarders« (2012), ein Werk, dessen anspielungsreiche Elemente sich am Ende indes nicht weniger logisch aufeinander beziehen lassen. Eine amorphe, kugelförmige Skulptur, bemalt und mit vielen Ausstülpungen versehen, ruht teilweise auf einem Mülleimer aus Stahl. Wäre er nicht da, hätte die Skulptur keinen Halt und würde umkippen. Daneben läuft auf einem Monitor ein Film. Er zeigt eine Taxifahrt in New York. Den Fahrer sieht man nicht. Aber er redet unablässig. Wie das manchmal so vorkommt. Über Gott und die Welt, Steuern und Finanzkrise, Religion und Glauben, Liebe und Ehe, Kinder und Beruf. Volkes Stimme. Wunderlich, weise und närrisch zugleich. Jemand, über den manche sagen würden, er sei Müll und rede Müll. Zugleich steht er für viele. Er ist der Souverän in einer Demokratie, dem man zur Wahl einen roten – in der Installation ist es ein schwarzer – Teppich ausrollt. Oder »Valid like Salad« (2012). Auch dieser Titel ist einmal mehr so ironisch wie präzise und erzählt eine Geschichte, die sich über Umwege, aber ohne in die Irre zu laufen, dem Werk nähert. Das Werk zeigt eine blockhafte Skulptur, einer Säule ähnlich, ebenfalls mit konstruktiv geometrischen und abstrakt expressiven Motiven. Ihre Ausrichtung folgt einer Vertikalen, von der Mondrian gesagt hat, sie sei der Mensch (und die Horizontale die Welt). Sie ist leicht geneigt, als würde sie jede Sekunde umstürzen, labil und stabil zugleich. An ihr hängt in Fotowidergabe ein gezeichnetes Porträt des jungen Al Pacino in »Scarface«. In seiner Rolle eines mexikanischen Drogendealers ist er nicht weniger ambivalent als die Skulptur, an der sein Bild hängt. Stark und verletzlich, machohaft und latent homosexuell, äußerst brutal und zärtlich. Ebenso zweideutig ist das rote Hundehalsband daneben. Man sieht förmlich wie es wütende Bulldoggen domestiziert, während seine Farbe die Aggression verharmlost und in Bonbonpapier packt.
Wände
Das Hauptwerk in der Ausstellung »Incidents of Travel in Yucatan« (2011) reiht sich ein in die Werke der »Wände« im Oeuvre der Künstlerin. Der Wand ist als Motiv in Form ihrer beiden Seiten, Vorder- und Rückseite, Ambivalenz wie von selbst eingeschrieben. Ihr Hallraum ist weit reichend, umso mehr als sich das Werk mit anderen zu einer ausgreifenden Erzählung verbindet. Die Wand hat Harrison aus Elementen einer Bühne gebaut, auf der Paul McCarthy einst im Consortium in Dijon eine Performance gab. Sie fand sie im Depot des Ausstellungshauses. Kunst kommt hier einmal mehr ganz konkret von Kunst. Im übertragenen Sinn ist Harrisons Wand aber auch durchdrungen von der Widerständigkeit des McCarthy-Werks. Auf der einen Seite zeigt ihre Wand eine glatte, wenn auch nicht immer weiße und zum Teil zusammengestückelte Oberfläche, die metonymisch den White Cube in Anschlag bringt, die von jedem Wirklichkeitsbezug gereinigte, aseptische Ausstellungssituation in Museen und Galerien.
Auf der anderen Seite wird die Wand mit Nischen, Vorsprüngen und Zahlenbeschriftungen singulär und unverwechselbar. Von ihrer rückwärtigen Seite aus wirkt sie anders als von vorn prekär und rekonstruiert. Darauf verweist auch der Titel, den Harrison ihrem Werk gegeben hat. Er zitiert ein 1834 zum ersten Mal veröffentlichtes Buch von John Lloyd Stephens. Der Forscher schildert darin seine Entdeckung von Maya-Ruinen, die er sich im Stil eines Kolonisten aneignet. In Yucatan stößt er auf Hinweise, dass die Mayas ein Ballspiel mit zwei Mannschaften ähnlich dem Fußball pflegten, bei dem die Kugel aus Kautschuk allerdings nur mit Knien, Hüften und Hintern bewegt werden durfte und in einen Steinring befördert werden musste. Gewonnen hatte das Team, dem dies zuerst gelang. Dabei ging es um Leben und Tod. Der Verlierer, vielleicht aber auch der Sieger, so genau weiß man das nicht, wurde zu Ehren der Götter geopfert. Um diese Wand gruppiert Harrison verschiedene, mit ihr verknüpfte Werke. »Hoop« (2011) zeigt einen Steinring, »Benched« (2011) eine gelbe Sitzbank (mit mexikanischer Bierdose versehen), auf der die Zuschauer Platz nahmen, um das Spiel zu sehen, und »Winner takes all«(2011) weibliche Trophäen, die das Maya-Spiel in subtiler Weise mit feministischen Kämpfen kurzschließen.
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