vergriffen

Artist Ausgabe Nr. 99

Portraits

Asco | Pierre Huyghe | Yevgenia Belorusets | Tobias Rehberger | Ulla von Brandenburg

Interview

Moritz Wesseler

Page

Uschi Huber

Portrait

Asco, »First Supper (After a Major Riot)«, detail, 1974, colour photograph by Harry Gamboa, Jr., © Harry Gamboa, Jr., Courtesy of The UCLA Chicano Studies Research Center

Textauszug

Asco
Wenn eine Gruppe von drei jungen männlichen Künstlern mitten in der Nacht auf ein Museumsgelände stürmt, um seine Namen im Stil von Signaturen direkt auf eine Fußgängerbrücke am Eingang zu sprayen, dann kann das aus Naivität, Dummheit oder Dreistigkeit geschehen. Im Falle von Harry Gamboa Jr., Gronk und Willie F. Herron III war es ein politisch motivierter Akt ästhetischen Widerstands, ein konzeptuelles Kunstwerk und mutige Institutionskritik zugleich. Mit ihrer Aktion »Spray Paint LACMA« eroberten sie sich 1972 zumindest für wenige Stunden die Definitionsmacht über eine Institution, die durch ihre restriktive Ausstellungspolitik stark umstritten war. Der nächtlichen Intervention vorausgegangen war die Behauptung eines am Los Angeles County Museum of Art (LACMA) beschäftigten Kurators, wonach Amerikaner mit mexikanischem Migrationshintergrund bloß dazu in der Lage wären, Graffiti und Wandgemälde hervorzubringen, niemals jedoch »richtige« Kunst. Gemeinsam mit ihrer Künstlerkollegin Patssi Valdez bildeten die drei das zwischen 1972 und 1987 in Los Angeles aktive Künstlerkollektiv Asco. Zusammen mit Valdez kehrte Gamboa am nächsten Tag auch noch einmal an den »Tatort« zurück, um das einzige weibliche Mitglied der Gruppe in extravaganter Aufmachung vor den Signaturen zu fotografieren. Im Laufe des Tages wurden sie wieder übertüncht.

Hervorgegangen ist Asco aus der Chicano-Bewegung, einer in den 1960er Jahren entstandenen Bürgerrechtsbewegung von Amerikanern mit mexikanischen Wurzeln, die die stereotypen, von der weißen Mehrheit, der Politik und Massenmedien wie der im Besitz des ultrakonservativen Hearst-Konzerns befindlichen »Los Angeles Times« benutzten Bezeichnungen »Latinos«, »Hispanics« oder »Mexikaner« als diskriminierend ablehnten, sich aber auch nicht nur „Amerikaner“ nennen wollten. Die Selbstbezeichnung »Chicano« ist Ausdruck eines durch blutige Konflikte mit der Polizei von Los Angeles (LAPD) gestärkten ethnischen Selbstbewusstseins. Mittlerweile ist die Hochkonjunktur des Begriffs »Chicano« vorbei. Er wird jedoch in Künstler- und Intellektuellenkreisen weiterhin bevorzugt verwendet. Der Name der Gruppe Asco bezeichnet im Spanischen Gefühle wie »Ekel«, »Abscheu«, »Widerwille« und gibt damit eine Stoßrichtung vor, die sich vornehmlich gegen die weiße Dominanz in Politik, Polizei, Kultur und der Filmindustrie Hollywoods richtete. Harry Gamboa Jr.: »Das einzige Feld, auf dem wir den Kampf gewinnen konnten, war das der Kreativität: Bilder gegen die überall auf den Straßen sichtbaren Waffen.« Noch bevor die Gruppe mit Aktionen im Stadtraum auf sich aufmerksam machte, gründeten sie die radikale Avantgarde-Zeitschrift »Regeneración«, die sich mit kulturellen Aspekten des Chicano-Aktivismus in Los Angeles beschäftigte.

Triangle France« und »Le Cartel« zeigen jetzt im Kunstzentrum »Friche Belle de Mai« in Marseille die in Zusammenarbeit mit dem UCLA Chicano Studies Research Center in Los Angeles entstandene Schau »ASCO and Friends: Exiled Portraits«, die sich mit den vier Mitgliedern der Gruppe, aber auch einigen anderen Künstlern aus deren Umfeld beschäftigt. Ascos künstlerische Praxis verband Elemente von Performance Art, Guerilla-Taktiken, Travestie, Happening und Aktionskunst.

Nicole Büsing / Heiko Klaas