vergriffen

Artist Ausgabe Nr. 99

Portraits

Asco | Pierre Huyghe | Yevgenia Belorusets | Tobias Rehberger | Ulla von Brandenburg

Interview

Moritz Wesseler

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Uschi Huber

Portrait

Zoodram 4, 2011, Lebendes maritimes Ökosystem, Kunstharzmaske von La Muse endormie (1910) von Constantin Brancusi. Living marine ecosystem, resin mask of La Muse endormie (1910) by Constantin Brancusi, Photo: © Guillaume Ziccarelli, Courtesy the artist; Marian Goodman Gallery, New York/Paris; Esther Schipper, Berlin, © VG Bild-Kunst Bonn, 2014

Textauszug

Pierre Huyghe
Pierre Huyghes international gerühmte Retrospektive, die ihren Beginn im vergangenen Herbst im Centre Pompidou in Paris fand (21. September 2013 – 6. Januar 2014), von dort nach Köln gelang und weiter nach Los Angeles ziehen wird, dürfte zu den Projekten gehören, die selber Ausstellungsgeschichte schreiben. Seit den 1990er Jahren kreist das Werk des französischen Künstlers um Neudefinitionen des Werkbegriffs und die Entwicklung neuer Ausstellungsformate, die sich beständig fortschreiben. Bekannt geworden ist Pierre Huyghe, geboren 1962 in Paris, vor allem mit seinen Video-, Sound- und Medienkunstarbeiten, bei denen es um Wahrnehmung, die Konstruktion von verschiedenen Realitätsebenen und die Dekonstruktion festgelegter Bedeutungen und sedimentierter Erzählformen ging. In seiner Arbeit »Dubbing« (1996) erfuhr man vom eigentlichen Film nur über die Untertitel und die Reaktionen der gefilmten Zuschauer. 1999 erwarb er zusammen mit Philippe Parreno von einer japanischen Agentur das Copyright einer Manga-Figur, die den Namen Ann Lee erhielt (»No Ghost Just a Shell«). Das nur in Umrissen existierende Zeichen, ein von jeglichem Inhalt entleertes Vehikel, sollte zukünftig unterschiedlichsten Autoren zur Verfügung stehen. So entstanden nicht nur Kurzfilme von Parreno und Huyghe; auch Künstler wie Liam Gillick, Dominique Gonzalez-Foerster, François Curlet, Melik Ohanian, Rirkrit Tiravanija oder Tino Seghal hauchten der Figur Leben und eine sich immer weiter von ihren Schöpfern emanzipierende Identität ein.

In den letzten Jahren ist es vor allem die Schaffung realer Situationen, die Pierre Huyghe interessieren oder wie er formuliert: die Intensivierung des Gegenwärtigen. Diese realen Situationen werden nicht auf- oder vorgeführt, sondern ereignen sich während, aber auch ohne Anwesenheit des Betrachters. Ins Zentrum rückt dabei die Hinterfragung der Vitalität des Bildes und des Körpers, die des Raumes und damit auch die des Ausstellungsformates. Denn nicht zuletzt stellt Huyghe auch angesichts eines überhitzten Ausstellungsbetriebes die kuratorisch grundlegend wichtige und häufig vernachlässigte Frage: warum, wann und wo ein Projekt beziehungsweise eine Ausstellung stattfinden kann.

Die seit der Moderne proklamierte Vision einer Verbindung von Kunst und Leben wird dabei nicht modellhaft oder konzeptuell behauptet, sondern findet einfach statt. Und Huyghe verknüpft die ansonsten sorgfältige Trennung von Kunst und Natur mit einer faszinierenden Verbindung lebendiger Wesen mit leblosen Dingen, indem er Bilder der Kunst mit Bildern der physikalischen, mineralischen und biologischen Welt zusammenfügt. Grundlegend neu für ihn geschah dieses auf der dOCUMENTA (13) in der Karlsaue in Kassel, wo Huyghe ein ebenso anspielungsreiches wie psychoaktives, unkultiviertes Biotop de- und arrangierte.

Am unmittelbarsten geschieht dieses in der Retrospektive in seinen »Zoodramen«, geschlossene Unterwasserökosysteme, geschmückt mit schwebenden Magritte-Steinen und Brancusi-Skulpturen, die von Pfeilschwanzkrebsen (Horseshoe-Crabs), Seespinnen, Fischen und anderen wirbellosen Tieren bewohnt werden. Dabei geht es Huyghe nicht um eine Apotheose extremer Künstlichkeit oder die überschraubter Wildwüchse barocker französischer Ästhetik. Vielmehr erscheint Huyghes Werk wie ein Echo zahlreicher philosophischer und ästhetischer Diskurse, die seit einigen Jahren durch zahlreiche geistes- und naturwissenschaftliche Kongresse ziehen und sich unter dem Stichwort »Animismus als Anthropozentrismuskritik« bündeln lassen (vgl. Niklas Maak in der FAZ, 7.12.2013). Hatte sich Carolyn Christov-Bakargiev mit schräg kolportierten Zitaten (»Wahlrecht für Erdbeeren und Bienen«) auf den Pressekonferenzen zur dOCUMENTA 13
noch heftigen Spott eingefahren, so sickert die Erkenntnis über hochsensible Kommunikationsformen nichtmenschlicher Lebewesen und die nichtmenschlicher Schöpfungskraft zunehmend in den Kunstbetrieb ein. Einen wichtigen Beitrag zum Thema lieferte auch die mehrteilige von Anselm Franke initiierte und kuratierte »Animismus«-Ausstellung (Wien 2011 und Berlin 2012). Wo genau verlaufen die Grenzen zwischen Kunst und Natur, zwischen Leben und unbelebter Materie, zwischen Realität und Illusion, zwischen Menschlichem und Nichtmenschlichem? In Pierre Huyghes Ausstellung rollen die Köpfe, ziehen sich ein, drehen sich um und dort, wo der Mensch mit seinem Blick die Welt dominierte, hausen nun die Bienen, hingegen tragen die Menschen Tierköpfe (»La Toison d’Or«) oder grell leuchtende Bücher (»Player«).

Sabine Maria Schmidt