Portrait

Seven Tears, 2016, Ausstellungsansicht Kunstverein Hannover 2016, Courtesy Galerie Isabella Bortolozzi, Berlin, und Tanya Bonakdar Gallery, New York, Foto: Raimund Zakowski

Textauszug

Susan Philipsz
In dieser bildhauerischen Tradition, die Plastiken aus Sprache erschafft, um auf diese Weise Erkenntnisprozesse anzustoßen, stehen die Werke von Susan Philipsz, auch wenn sie dabei mit Klängen, und in erster Linie sogar mit musikalischen Klängen, arbeitet. Aber die Etikettierung ihrer Werke als Musik ginge an der Intention der Künstlerin vorbei. Das wäre, als wolle man die Sprachskulpturen von Lawrence Weiner als Literatur verstehen. Philipsz geht es wie den oben Genannten weniger um exquisiten Hörgenuss als um die Bewusstmachung existenzieller Prozesse, in denen Raum, Zeit und Mensch gleichermaßen aufgehoben sind. Häufig nutzt sie in ihren Arbeiten ihre eigene Stimme, die sie als Singstimme einsetzt, obwohl sie keineswegs musikalisch ausgebildet ist.

Wahrscheinlich eine der schönsten Ausstellungen der Künstlerin ist aktuell im Kunstverein Hannover zu sehen. Man gewinnt den Eindruck, seine einem Ritornell ähnelnde Raumflucht mit ihrer besonderen Akustik müsse Susan Philipsz, die bei ihren Werken immer vom Ort ausgeht, zu dieser ästhetischen Höchstleistung beflügelt haben. Ihre Evokation menschlichen Leids erscheint hier eindringlicher als je zuvor. Schmerz und Schönheit führt sie in einem schwebenden Gleichgewicht zusammen, dessen Vollkommenheit seinesgleichen sucht. Einmal mehr entpuppt Philipsz sich dabei als Meisterin und Magierin großartiger zeichenhafter Anspielungen. Ihre indexalischen Strategien bestimmen in überwältigender Weise gleich die Werke in den ersten beiden Räumen. Die Fotografien ihres Atems dort sind Selbst- und Menschheitsporträt. Der Atem – lateinisch spiritus – hat von alters her nicht nur eine physische, sondern auch eine spirituelle Dimension. Wie das Leben selbst, das ohne ihn nicht möglich wäre. Luft braucht es auch beim Orgelspiel, an das die Orgelpfeifen auf den Podesten erinnern. Als membra disiecta verweisen sie trotz ihrer edlen Gestalt auf die Zerrissenheit der Welt, die vielleicht niemals so groß war wie in der Moderne. Hellsichtig hat T. S. Eliot zwischen den großen Kriegen im »Waste Land« diesen Zustand diagnostiziert. Was wir heute in Händen hielten, so der Dichter, sei »just a heap of broken images«, nur ein Haufen zerbrochener Bilder. Von dieser verloren gegangenen Ganzheit der Welt künden auch die Klanginstallationen von Susan Philipsz. Wobei es ihnen auf wundersame Weise gelingt, den überwältigenden Schmerz, der sie durchströmt, in Formen makelloser Schönheit zu präsentieren. So trauern und trösten sie zugleich und sorgen beim Betrachter für eine Katharsis, die der Wirkung der griechischen Tragödie in nichts nachsteht. Das trifft auch für den großen Raum zu, in dem die Künstlerin an den jüdischen Kaufmann Emil Berliner, dem Erfinder der Schallplatte, erinnert. Einen gebürtigen Hannoveraner, der in seiner Heimatstadt 1898 die »Deutsche Grammophon Gesellschaft« gründete, die 1906 täglich 36.000 Schallplatten produzierte. Berliner verbrachte seine letzten Lebensjahre in den USA, wo er 1929 starb, aber seine Glaubensgenossen wurden in den Jahren der Naziherrschaft auch in Hannover entrechtet und ermordet. Ihm und ihnen zu Ehren hat Philipsz sieben Vinyl-Schallplatten fertigen lassen. Auf jeder ist ein anderer Ton der Komposition »Lacrimae or Seven Tears« (1604) von John Dowland zu hören, von der Künstlerin mit Hilfe singender Weingläser eingespielt. Ihre Sektion hat die tränenreiche Elegie aus der Vergangenheit in eine klagende, ganz und gar gegenwärtige Klangskulptur verwandelt, die schmerzhaft in das Herz des Hörers schneidet.

Michael Stoeber