Portrait

Litauen, Rugile Barzdziukaite, Vaiva Grainyte, Lina Lapelyte, »Sun & Sea« (Marina), Foto: Andrea Avezzù, Courtesy La Biennale di Venezia

Textauszug

La Biennale di Venezia 2019
Düster schwarz und schwer zu erkennen… was da im dänischen Pavillon einen ganzen dunklen Raum füllt, muss eine große Kugel
sein. Das scheint die einzige Erklärung, doch eindeutig zu sehen ist es nicht. Und je genauer man versucht, das Ding zu inspizieren, desto stärker verliert es das Volumen und scheint wider besseres Wissen zur Fläche zu werden – zu einer Projektion. So ist dies ein gutes Beispiel für die Problematik fast aller Kunst auf dieser 58. Biennale in Venedig. Der US-amerikanische Kurator Ralph Rugoff hat sie unter das unverbindliche und doppeldeutige Motto »May You Live in Interesting Times« gestellt: Ein Wunsch nach Vielfalt, der zugleich eine Drohung ist.

Um das Urteil vorwegzunehmen: Vielleicht ist die ausdrücklich ohne thematische Linie zusammengestellte, von denselben Künstlern im Giardini-Hauptpavillon und im Arsenale zum besseren Erkennen mit jeweils einer, oft sehr anders gearteten Arbeit bestückte Ausstellung insofern auch konsequent. Sie ist ein eher messeähnliches subjektives Angebot, das als Resonanz so viel Schönheit oder Terror zulässt, wie die Besucher*innen es individuell gerne für sich haben wollen. Und da nach Rugoff ohnehin alles mit allem verbunden ist, ist es kein Wunder, dass die Kritik teils diese Mehrdeutigkeit lobte, teils alles doch höchst politisch empfand, doch zumindest von der reduzierten Auswahl auf nur 79, überwiegend jüngere internationale Stars mit wenig Neuproduktionen irritiert war. Die von Ralph Rugoff explizit gewollte Offenheit kann auch als mehr oder weniger beliebiges Angebot an mitfinanzierende Galerien gesehen werden, reduziert aber vor allem die didaktische Macht des Kurators und gibt dem Publikum die Freiheit der eigenen Kunstinterpretation zurück. Das allerdings ist durchaus im nach »rechts« gerutschten Zeitgeist, der die Kunst eher unpolitisch, als Ware und als weitgehend individualisierte Sinnessensation betrachtet – trotz gelegentlicher Statements: So wird im Kuppelraum des Zentralpavillons er 1936 von Max Ernst gemalte böse, kriegsverkündende »Hausengel« als erneute Warnung von Cyprien Gaillard dynamisch wiederbelebt.

Was sehe ich, was merke ich dabei und was muss ich dazu wissen, damit alle Kunst funktioniert? Wie sich im gelegentlich die Giardini einhüllenden Nebel zurechtfinden, den eine von Lara Favaretto installierte Nebelmaschine über die Kunst ausbreitet? Das ist durchaus als Aufforderung und nicht nur als schöner Effekt zu verstehen, nennt die italienische Künstlerin ihre Vernebelungsarbeit doch ausdrücklich »Thinking Head«. Ohne die Kontexte, ohne das mitgebrachte Vorwissen, bleiben die Dinge bloß Dinge.

Im Arsenale – also einer historischen Schiffswerft – steht in Sichtweite eines U-Boots am anderen Ufer des Wasserbeckens und neben einem alten Kran, ein rostiges Schiffswrack. Leicht ist es als Teil der Ortsfolklore zu übersehen. Doch für den Schweizer Politkünstler Christoph Büchel ist das »Barca Nostra« betitelte Objekt Kunst. Nicht nur war es technisch und politisch äußerst schwierig, das 2016 vom Meeresgrund aus 350 Metern T
iefe im Auftrag der früheren italienischen Regierung geborgene Teil hierher
zu bringen, vielmehr steht dieser wenig schwimmfähige Eisentorso
für den Tod von über 700 Flüchtlingen im Mittelmeer, unserem »Mare nostrum«. Es soll mit der Kraft dieser »authentischen« Aufladung hier als Mahnmal wirken – für die Besucher wie für die aktuelle Regierung. Das ist äußerst schmerzhaft. Und zwar sowohl in Bezug auf die unabweisbar entsetzliche historische Bedeutung, wie in Bezug auf einen derartig pathosbeladenen Kunstbegriff, der Kunst durch reale Menschenopfer zur Wichtigkeit verhilft. Im weiteren Rundgang, ganz hinten in den Giardini della Vergine, kann man sich des Todesschiffs erinnern: Der türkische Künstler Halil Altindere inszeniert dort so etwas wie ein Traumhaus für Flüchtlinge, ein tödlich vergiftetes Sehnsuchtsmoment. Seine palladianische Villa ist nur eine hohle Fassade und trägt im Giebel den Titel »Neverland«. Ein weiteres Bühnenbild für die Tragödien, die das Theater längst verlassen haben. Auch die mit einer »besonderen Erwähnung« ausgezeichnete Mexikanerin Teresa Margolles arbeitet wie oft mit dem Schauder des »authentischen« Belegs, dessen Appell sich erst durch das Wissen um die damit verbundene Geschichte gänzlich erschließt: Vor ihrer aus Ciudad Juárez hergebrachten zwölf Meter langen Schulmauer mit ihren Einschusslöchern wurde im Krieg der Drogenbanden eine Gruppe von Jugendlichen ermordet.

Immer wieder ist dieses Jahr Kunst zu sehen, die auf theatralische Überwältigung setzt, insbesondere von den neuen Amerikanern – den in große Gesten verliebten, eklektischen und so kitschaffinen Chinesen. Da gibt es den riesigen Industrieroboter von Sun Yan und Peng Yu, der sisyphosartig Blut aufwischt (um Symbole und Realität nicht allzu sehr zu vermischen: es ist erst mal bloß Farbe). Und dann rastet er mitunter völlig aus, fuchtelt wild herum und spritzt in alle Richtungen, um sich schließlich doch zurück an die eintönige Arbeit zu machen. Das alles ist großartig interpretierbar, aber doch auch sehr simpel. Die Chinesin
Nabuqi lässt eine Plastikkuh auf Schienen im Kreis fahren oder ein Billboard mit Palmen auf Töpfe mit realen Palmen stürzen… es könnte einfach um erste und zweite Natur gehen. Immer technisch perfekt, stets etwas altklug und auf Überwältigung aus, ist auch der chinesische Pavillon. Da werden venezianische Brücken mit chinesischen verglichen, denn sie haben, Überraschung, oft gleiche Form und Funktion. Und in der Großprojektion von Geng Xues Geburts- und Wiedergeburtsphantasie, ein Animationsfilm mit grauer Tonerde, schimmert sentimental golden allein das Herz.

Auch Polen setzt auf Pathos: Roman Stanczak hat ein ganzes
Privatflugzeug von innen nach außen gestülpt – wie einen auf links gezogenen Handschuh. Das gruselige Objekt dekonstruiert nicht nur den Aufwand, der für die elegante Fortbewegung der Luxusklasse notwendig ist, es soll diese selbst gleich mit demontieren und zu eher spirituellen Flügen anregen: »Interesting Times« werden oft als gruselige Zeiten interpretiert.

Es erübrigt sich fast zu erwähnen: Selbstverständlich ist die
Genderthematik immer wieder Thema. Dabei ist Ralph Rugoff zu koinzidieren, dass erstmals das Verhältnis der Künstlerinnen und Künstlern seiner Auswahl exakt ausgewogen ist. Ein ganzes Museum richtet Voluspa Jarpa ein, um im chilenischen Pavillon die schädliche Dominanz des europäischen Mannes mit historischen Dokumenten herzuleiten und zu demonstrieren. »Altered Views« ist eine höchst aufwendige und boshaft arteiische Inszenierung. Sie gipfelt in einem Video einer neu geschriebenen Oper, bei der die Anderen aus den Anden die Helden sind. Und noch einmal Südamerika: In mitreißender Begeisterung wird der Geschlechterkampf im brasilianischen Pavillon behandelt. Was im Projekt »Swinguerra« zuerst in Tanz und Sound nur wie tropischer Pop in extremer Sexualisierung erscheint, zeigt sich bei längerer Betrachtung als Ausdrucksform schwarzer Transgender. Mit deren Wertschätzung stehen Bárbara Wagner & Benjamin de Burca deutlich im Gegensatz zur aktuellen rechtspopulistischen Staatsführung … wiederum ist das Politische eine Frage des Kontextes.

Nicht vergessen werden sollte der Auftritt Israels: Aya Ben Ron hat ein komplettes »Field Hospital x« installiert. Hier werden die Besucher zu Patienten, denen nach geduldigem Warten und einer schallisolierten Schreitherapie mittels Video in bequemen Krankenhausliegen die Empathie mit von allerlei privatem und staatlichem Unrecht Betroffenen beigebracht werden soll. So sind praktisch in einer sedierten Zwangslage die Videos in voller Länge und mit der Option zu mehreren anschließenden Kommentaren zu rezipieren.

Hajo Schiff