Portrait

Untitled (No. 7), 1957 © The artist, Privatsammlung Christian Zacharias, Courtesy Modern Art, London, Foto: Robert Glowacki

Textauszug

Forrest Bess
Im Kleinstformat rufen Forrest Bess’ Bilder weite Landschaften auf, wo
Sonnen und Monde in dunkles Meer versinken oder über endlosem
Terrain aufgehen. Ferne Sterne, die in greifbare Nähe gerückt werden,
windbewegte Gräser, die Andeutung einer Bucht. Zeichen und Wunder,
organisch gerundet bis geometrisch-kantig definiert: Schwebende
Fluggebilde lassen an Raumschiffe denken, die aus der Zukunft in die
Gegenwart gelangt sind. Sie wirken zugleich wie archaische Boten aus
der Vergangenheit, wie das astrale Licht, das uns als visuelles Echo aus
den Tiefen des Alls erreicht. Der 1911 im texanischen Städtchen Bay City
geborene, 1977 dort verstorbene Künstler Forrest Bess, der abgeschieden
als Angler und Köderverkäufer am Wasserrand lebte, ist ein Wanderer
zwischen gestern und morgen. Er bewegt sich zwischen den Urgründen
kollektiver Kulturgeschichte und der persönlichen Hoffnung auf die
Überwindung von Endlichkeit durch Wiederherstellung einer männlichweiblichen
Einheit im eigenen Körper. Im zeitübergreifenden Jetzt seiner
Malerei stellt er Synthesen her zwischen den Außenräumen der Natur
und den verschleierten Sphären der Psyche. Letzteren entspringen die
Visionen, die Bess seit früher Kindheit im Traumzustand zwischen Wachen
und Schlafen in sich aufsteigen sah und die ab 1946 zunehmend
seine Bilder bestimmten.

Eine umfangreiche Retrospektive im Museum Fridericianum in Kassel, kuratiert von dessen
Direktor Moritz Wesseler, rückt nun mit Verlängerung bis 6. September
2020 Bess’ ästhetische Autonomie und vorausweisende Aktualität in den
Blick. Mit über 70 Werken des Malers von 1935 bis 1970 aus privaten
und institutionellen Sammlungen spannt sie einen Bogen von seinen
figurativen Anfängen bis zu seinen letzten Schaffensjahren, in denen
abstrakte Naturansichten und verschlüsselte Bezüge zum angestrebten
zweigeschlechtlichen Zustand alternieren.

Auch eine Klassifizierung des Künstlers als »Outsider Artist« (So etwa
im Kunstforum-Band »Outside USA I« von 1991, der »sich den
künstlerischen Außenseitern in den USA, den Ausgestoßenen und Abseitsstehenden
« widmet), dies zeigt die Ausstellung eindrücklich, ist nicht
adäquat. Der Vorstellung, Bess falle als Sonderling aus allen Kategorien
heraus, steht die Tatsache gegenüber, dass er seit seinem 29. Lebensjahr
immer wieder in musealen Zusammenhängen gezeigt wurde und in
einer der maßgeblichen New Yorker Galerien seiner Zeit über 17 Jahre
präsent war. Heute ist diese Kategorisierung ohnehin obsolet.

Nicht das Abwegige seiner Position, sondern die weiterhin erstaunliche Frische
seiner spezifischen Abstraktionen macht Bess spannend für nachfolgende
Generationen. Das belegt auch das große Interesse an seinem Werk von
Kunstschaffenden der Gegenwart wie Tomma Abts, Amy Sillman, Henrik
Olesen, James Benning oder Robert Gober, der zur Whitney Biennial 2012
eine viel rezipierte Bess-Schau organisierte. Markant ist zudem der
scheinbare Widerspruch zwischen der relativ isolierten Lebenssituation
des Künstlers und seiner regen, überregionalen Kommunikation als
Verfasser Tausender von Briefen an prominente Fachleute seiner Ära
aus verschiedensten Disziplinen und seiner intensiven jahrzehntelangen
Beschäftigung mit kultur- und naturwissenschaftlichen Themen.

Für Bess waren seine Bilder nichts Geringeres als Instrumente der
Welt- und Selbst-Erkenntnis, mit der er seine (Homo-)Sexualität
ebenso ergründete wie seinen Platz im Universum und vor dem Horizont
kollektiver Historie. Er nahm seine treibholzgerahmten, malerisch
aufgezeichneten Visionen buchstäblich wie Taschenspiegel in die Hand,
um sie zu erforschen: ein Work-in-Progress auf dem Weg zur Daseinserfüllung,
die er ultimativ in der Überwindung der empfundenen männlichweiblichen
Dualität durch die Herstellung physischer Androgynität sah.
Bess imaginierte die Verwandlung in einen »Pseudo-Hermaphrodit« als
Rückkehr zu einem idealen Urzustand der Harmonie des Menschen mit
der Natur und als Mittel zur Erlangung ewigen Lebens.

Mit einer Ausstellung 1981 im New Yorker Whitney Museum
startete seine postume Rezeption, der 1988/89 eine Ausstellung
mit Stationen in New York, Chicago und San Jose folgte, die im Museum
Ludwig in Köln endete. Die nächste Woge kam über ein Jahrzehnt
später mit Robert Gobers Whitney-Biennial-Schau 2012 in Gang, der
sich die Retrospektive »Seeing Things Invisible« 2013/14 mit Stationen
in Houston, Los Angeles, Purchase, N. Y., und Berkeley anschloss. In
Kassel sind jetzt nach dreißig Jahren erstmals wieder Werke von Forrest
Bess in Deutschland zu sehen. Wesseler, der sich seit vielen Jahren mit
dessen OEuvre und Bedeutung für heutige Kunstschaffende beschäftigt,
bietet mit seiner Ausstellung die (Neu-)Entdeckung einer Bildwelt,
die als Blick zurück in die Zukunft abstrakt-surreale, minimalistischreduzierte,
zeichenhaft-mythische sowie naturhaft-kosmische Elemente
vereint und sich weiterhin inspirierend auf jüngere Generationen von
Künstlerinnen und Künstlern auswirkt. Wenn man Bess beim Wort
nehmen will, war er ohnehin der Malerei von morgen auf der Spur: »My
painting is tomorrow’s painting«, sagte er. »Watch and see.«

Belinda Grace Gardner