vergriffen
Artist Ausgabe Nr. 126
Portraits
Claus Föttinger | Jonas Weichsel | William Kentridge | Laurel NakadatePortrait
January 16, 2010, 2011, From the series 365 Days: A Catalogue of Tears, Inkjet pigment print, 21,6 x 28 cm, 15 + 5 AP, Courtesy the artist, Galerie Tanja Wagner, Berlin and Leslie Tonkanow Artworks + Projects, New York
Textauszug
Laurel NakadateIn einer Zeit, in der die Grenzen zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen, aber auch zwischen Wirklichkeit, Fiktion und Imagination immer stärker verschwimmen beziehungsweise ständig neu ausgehandelt werden, begibt man sich als Künstlerin, die sich selbst, ihre weibliche Identität und ihre Familiengeschichte in den Mittelpunkt ihres Werkes stellt, auf relativ dünnes Eis. Laurel Nakadate hat von Beginn ihrer Karriere an genau das getan. Aber sie hat dabei stets originär neue konzeptuelle Ansätze und ästhetische Ausdrucksformen gefunden, die ihre Arbeiten davor bewahren, als ichbezogene Indiskretionen im Selfie-Zeitalter abgetan zu werden. Dafür weisen sie viel zu sehr über das rein Private hinaus. Nakadates Arbeiten loten gesellschaftliche Konflikte aus, sie untersuchen das Verhältnis zwischen den Geschlechtern, zwischen Alten und Jungen, zwischen der selbstzufriedenen amerikanischen Mehrheitsgesellschaft und den von ihr Ausgegrenzten.
Nakadates Arbeiten untersuchen menschliches Verhalten, speziell den männlichen Blick auf die Frau in der Grauzone zwischen legitimen Bedürfnissen, unerfüllten Projektionen und Begierden, aber auch nicht akzeptablen Normverstößen und Grenzüberschreitungen. Nakadate arbeitet mit Amateurdarstellern. Es bleibt unklar, inwiefern diese in die Intentionen der Künstlerin vollständig eingeweiht sind. Wie nah sind diese Videoarbeiten daher an der Realität? Was überwiegt? Das Dokumentarische oder die Inszenierung? Und wie steht es um den Voyeurismus des Publikums? »Da, wo sich die wirkliche Welt in bloße Bilder verwandelt, werden die bloßen Bilder zu wirklichen Wesen und zu den wirkenden Motivierungen eines hypnotischen Verhaltens« schreibt Guy Debord in seinem 1967 erschienenen Hauptwerk »Die Gesellschaft des Spektakels«. So gesehen, wird der voyeuristische Blick des Betrachters in den Arbeiten Laurel Nakadates ebenso bedient wie entlarvt.
Ihren Abschluss als MFA machte Nakadate 2001 an der Yale University. Ihre Karriere nahm gleich danach kräftig an Fahrt auf. Ihr Werk wurde in zahlreichen Einzel- und Gruppenausstellungen gezeigt. In Deutschland wird sie von der Berliner Galerie Tanja Wagner vertreten. Unter anderem erhielt Nakadate 2011 eine von Klaus Biesenbach kuratierte Museumsausstellung, die unter dem Titel »Laurel Nakadate: Only the Lonely« im New Yorker PS1 stattfand. In deren Zentrum stand auch die damals ganz neue Arbeit »365 Days: A Catalogue of Tears« (2010), in welcher die Künstlerin 365 Fotografien versammelte, die sie vor, während oder kurz nach dem täglichen Weinen zeigten. Ein Jahr lang hatte sich Laurel Nakadate in einer Art Dauerperformance jeden Tag wieder aufs Neue in eine traurige Stimmung versetzt, die sie am Ende dazu brachte, Tränen zu vergießen. Diese höchst unterschiedlichen Momente individuellen Leids hat sie mit dem Fotoapparat festgehalten. »365 Days: A Catalogue of Tears« weckt zwar zunächst Erinnerungen an die ikonische Arbeit »I’m too sad to tell you« (1970/1971) des niederländischen Konzeptkünstlers Bas Jan Ader, Jahrgang 1942, die den seit 1975 verschollenen Künstler in einem dreieinhalb-minütigen Film, auf Fotografien und Postkarten als exemplarisch Weinenden unsterblich gemacht hat. Aber dieser aus heutiger Sicht sentimentalen (Selbst-) Überhöhung eines mittlerweile aus der Zeit gefallenen melancholisch-männlichen Künstlerindividuums, das sich im geschützten White Cube für ein paar Minuten zum Weinen bringt, setzt Laurel Nakadate mit ihren auf Parkplätzen, in Schlafzimmern oder auf Flugzeugtoiletten entstandenen Bildern eine weitaus lebensnähere, feministisch unterfütterte Version des Trauersujets entgegen. In einem 2019 erschienenen Interview mit Monopol ordnete sie die Arbeit aber auch als einen Reflex auf die enervierende Daumen-hoch-Mentalität, also die von den sozialen Medien verordnete Dauerzufriedenheit ihrer Nutzer, ein. »Ich wollte etwas Chaotisches, Rohes und Emotionales machen, über Dinge sprechen, die viele Menschen fühlen, aber nur wenige ausdrücken.«
In ihren jüngeren Arbeiten tritt die Künstlerin dagegen als sichtbare Protagonistin stärker in den Hintergrund. Gleichwohl bleibt sie auch jetzt die Regisseurin. Oft verwendet sie jetzt die eigene Familiengeschichte als Material, um sich verschütteten Narrativen anzunähern, diese einer Revision zu unterziehen oder sie in ganz neue, fiktive Narrative zu überführen. Das Autobiographische wird noch stärker als zuvor zum Instrument der Selbstrepräsentation und der Selbstbefragung. Die meisten dieser neueren Arbeiten und Serien können daher als Expeditionen in ihre Biografie und Familiengeschichte gelesen werden.
Obwohl sie hier den auch heute noch allgegenwärtigen Alltagsrassismus in der amerikanischen Gesellschaft anspricht: In eine ethnisch bestimmte Schublade möchte sich Laurel Nakadate auf keinen Fall stecken lassen. Bereits 2010 sagte sie in einem Interview: »Ich bin zwar stolz darauf, eine Amerikanerin mit japanischen Wurzeln zu sein, aber ich habe ein Problem mit Ausstellungen, die sich auf nur eine ethnische Gruppe beschränken. In Ausstellungen sollte es um die Werke gehen. Ganz unabhängig von ethnischen Kriterien…«
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