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Artist Ausgabe Nr. 126
Portraits
Claus Föttinger | Jonas Weichsel | William Kentridge | Laurel NakadateInterview
Prof. Dr. Dirk Luckow, Intendant, Deichtorhallen Hamburg, Foto: Michael Schipper
Textauszug
Dirk LuckowSeit 2009 leiten Sie als Intendant die Deichtorhallen, gemeinsam mit dem Kaufmännischen Direktor Bert Antonius Kaufmann. Was sind die Spezifika eines Intendantenvertrages?
D.L.: Es geht darum, ein möglichst vielfältiges und künstlerisch anspruchsvolles Programm an unseren drei Spielorten, der Halle für Aktuelle Kunst, dem Haus der Photographie sowie der Sammlung Falckenberg zu gewährleisten, alljährlich ein lebendiges Rahmenprogramm für unser Publikum zu entwickeln, neue Besucherschichten und Zielgruppen zu erschließen, eng mit dem Förder- und dem Freundeskreis der Deichtorhallen zusammenzuarbeiten, die Triennale der Photographie als gesamtstädtisches Projekt künstlerisch und organisatorisch vorzubereiten, aber auch die Senkung des Energieverbrauchs im Blick zu haben und natürlich die Einhaltung des jeweils bewilligten Jahresbudgets, um nur einige Punkte aufzuführen. Ziele, die in einer von Jahr zu Jahr neu angepassten Liste überprüft werden.
J.Krb.: Zur Präsentation der Sammlung F.C. Gundlach im Kunstverein Hamburg (1989) erschien eine Publikation mit dem Titel: »Das Medium Fotografie ist berechtigt, Denkanstöße zu geben«. Ein bescheidenes wie sympathisches Statement. Heute hingegen werden gegenüber der Kunst Ver- und Gebote aufgestellt, Erwartungen und Hoffnungen formuliert. Kunst habe politisch korrekt zu sein, dem Fortschritt zu dienen und den drohenden Klimawandel zu thematisieren. Macht die Kunst aus uns bessere Menschen, ist sie die Reparaturwerkstatt der Gesellschaft, was kann Kunst »leisten«?
D.L.: Kunst, oder allgemeiner Kultur, ist aus meiner Sicht ein Fluidum, das alle menschlichen Tätigkeiten durchzieht. Sie irritiert und aktiviert, öffnet Geist und Seele und ist immer auch eine Möglichkeit, Menschen zu verbinden, integrative Prozesse anzustoßen. Sie regt die Menschen zu anderen Gedankengängen an, denn kein Mensch ist nur durch berufliche Gegebenheiten motiviert. Kultur wie aktuell während des Lockdowns aus dem öffentlichen Leben zu streichen, bedeutet, die ganze Reflexion des Daseins, die man für die Alltagsbewältigung auch braucht, zu beschränken. So gesehen wird der Beitrag von Kunst und Kultur für die Gesellschaft immer wieder unterschätzt, einfach weil er sich nicht in Ziffern und Zahlen bemessen lässt. Anders sähe es wahrscheinlich aus, wenn man messen könnte, auf wie viele gute Ideen Menschen kommen, während sie in Kulturveranstaltungen sind. Dann würde die Einschätzung der Kunst schon ganz anders aussehen.
J.Krb.: Das Forschungsprojekt »museum global« lenkt den Blick auf eine globalgeschichtliche Perspektive der Moderne und andere mögliche Erzählungen jenseits des westlichen Kanons. Sie betonen, dass in Zukunft das Ausstellungsprogramm der Deichtorhallen globaler aufgestellt wird. Und die konkreten Auswirkungen auf Ihre kuratorische Praxis?
D.L.: Unsere Zusammenarbeit mit dem Zeitz Museum of Contemporary Art Africa in Kapstadt für die William Kentridge-Ausstellung ist die erste von dort ausgehende Kooperation mit einer deutschen Institution. Wir verstehen das als Anstoß zu einem weiteren Dialog mit Kurator*innen und Institutionen über Kontinente hinweg. Das Kernteam der kommenden Triennale der Photographie setzt sich aus vier Kuratorinnen zusammen: Koyo Kouoh aus Kapstadt, Rasha Salti aus Beirut/Berlin, Gabriella Beckhurst aus London und Remi Onabanjo aus New York. Diese Impulse werden durch die Kooperation mit der Sharjah Art Foundation im Herbst 2022 fortgeführt. Wir verfolgen die Debatte über Diversität und »strukturelle Ausschlüsse« sehr genau und nehmen zum Beispiel an einem Programm des Auswärtigen Amtes teil, das den gezielten Austausch mit afrikanischen Kultureinrichtungen fördert. Es sind am Ende eine Vielzahl von Dingen, die unsere Blickrichtung verändern.
J.Krb.: Museen und Kunsthallen versuchen, ihre eigene Vortrefflichkeit anhand von Einschaltquoten zu belegen. Allerdings sind Kunsteinrichtungen hier in eine »Falle« getappt, denn der letzte Besucherrekord erfordert einen erneuten Rekord. Eine Endlosschleife. Marketingabteilungen entwickeln absonderliche Konzepte und Strategien, um die jeweilige Ausstellung massenkompatibel anzubieten. Spielen Sie auch auf dieser Klaviatur oder überlassen Sie das Zählen Ihren Kollegen?
D.L.: Auf gewisse Weise sind auch wir in diesem Mechanismus gefangen. So ist die Struktur heute, dass die Häuser der sie fördernden Stadt verpflichtet sind. Dadurch kommt es zu diesem Druck. Wir nehmen uns aber auch die Freiheit, Ausstellungen zu zeigen, die rein nach den Besucherzahlen beurteilt eine schlechte Quote haben. Kunst selbst zeigt, dass alles immer anders ist als gedacht, auch der Erfolg. Die Deichtorhallen stehen immer den Künstler*innen sehr nahe. Ihnen schaffen wir hier eine einmalige Bühne. Ihre Kunst wollen wir feiern. Das weiß das Publikum zu schätzen.
J.Krb.: »Wir treten dezidiert als Museum an und nicht als irgendein Mischmasch von Museum, Kunstverein und Kunsthalle«, so Kasper König bei seinem Antritt im Museum Ludwig. (1) Mir scheint, es handelt sich bei den Deichtorhallen um eine hybride Konstruktion, weder um eine Halle, die ausschließlich Sonderausstellungen realisiert, noch um ein typisches Sammlermuseum. Was macht das Profil der Deichtorhallen aus?
D.L.: 1989 wurden die ehemaligen Großmarkthallen in ein modernes Zentrum für Kunst, die Deichtorhallen, umgewandelt. Überall erschloss man damals neue Orte für die zeitgenössische Kunst. Seit den 1960er Jahren eroberten Künstler*innen immer mehr Freiräume innerhalb wie außerhalb musealer Strukturen. Das führte unter anderem zu einem minimalistisch geprägten, große Raumerlebnisse ermöglichenden Ausstellen von Kunst. Die Kooperationen mit den Sammlern F.C. Gundlach seit 2005 und Harald Falckenberg seit 2011 sind natürlich Schritte in Richtung Sammlermuseum. Aber wir reden hier von zeitlich befristeten Verträgen und sehen die Deichtorhallen nach wie vor in erster Linie in der Tradition eines Ausstellungshauses. Die Sonderausstellungen und das Ziel, sie perfekt für ein vielschichtiges diverses Publikum umzusetzen, stehen im Mittelpunkt. Gerne stellen wir dabei Bezüge zu den Sammlungen von Gundlach und Falckenberg her. Sie bieten uns außerdem eine Rückendeckung im Leihverkehr, die für die Ausstellungen hilfreich ist.
d die Kooperation mit der Sammlung Falckenberg sind die Deichtorhallen kein reines Ausstellungshaus mehr wie ursprünglich konzipiert. Sie kooperieren u. a. auch mit Sammler*innen wie Julia Stoschek, Axel Haubrok und Uli Sigg. Wird das Konzept eines Sammlermuseums künftig eine größere Rolle spielen?
D.L.: In den Deichtorhallen dreht sich nach wie vor erst einmal alles um das Ausstellen von Kunst, darum, einen frischen Blick auf die Gegenwartskunst und -fotografie zu werfen und für neue Verknüpfungen zu sorgen. Unsere Zusammenarbeit mit den Privatsammlern F. C. Gundlach und Harald Falckenberg spielt dabei inzwischen eine immer wichtigere Rolle. Auch entwickeln wir Themen und Konzepte aus den Sammlungen heraus. Immer wieder sehen wir uns mit konservatorischen und wissenschaftlichen Fragen rund um die Sammlungen konfrontiert. So etwa bei der umfassenden Aufarbeitung der Geschichte der Sammlung Falckenberg von Stefanie Regenbrecht im Rahmen des Pilotprojektes »Promovieren im Museum« in Kooperation mit der Leuphana Universität Lüneburg. Trotzdem würde ich nicht vom Konzept eines Sammlermuseums sprechen, eher, wie erwähnt, von Rückenstärkung.
J.Krb.: Der Kunstbetrieb ist mittlerweile kein herrschaftsfreier Raum mehr, auch gehören Inklusion und Exklusion, Machtspiele unterschiedlicher Interessen zum Alltag. Haben die Museen noch die Definitionshoheit, was gute Kunst ist oder können Sammler*innen durch massive Käufe oder Verkäufe den Stellenwert einer künstlerischen Position beeinflussen?
D.L.: Ich weiß gar nicht, ob das mit dem Bedeutungsverlust der öffentlichen Museen und der Definitionshoheit der privaten Sammlungen so stimmt. Man kann eine Sache auch herbeireden. Nach wie vor haben die Künstler*innen den Wunsch, etwas im Museum zu machen. Und die Museen versuchen ihre Ausstellungen möglichst nah am Puls der Zeit zu entwickeln. Die Kunstmessen und der Kunstmarkt mit seinem Netzwerk von Sammler*innen machen Vorlagen, die die Museumsleute eventuell ins Programm nehmen. Dadurch ist den Künstler*innen eine größere Öffentlichkeit garantiert. Ich sehe es so, dass es in der Kunstwelt sehr verschiedene Mächte gibt, die sich im Normalfall gegenseitig ergänzen und inspirieren. Geld spielt sicher eine wichtige Rolle, aber es gibt auch die intellektuelle, aktivistische und politische Macht, wie nicht nur die ArtReview letztens festgestellt hat.
J.Krb.: Begleitend zur Präsidentschaftswahl in den USA zeigen Sie Ausstellungen mit den beiden US-amerikanischen Fotografen Matt Black (»American Geography«) und Jerry Berndt (»Beautiful America«). Positionen, die sich in einem politischen Kontext verorten lassen. Was ist für Sie politische Kunst?
D.L.: Félix González-Torres sagte mir einmal etwas, was mir bis heute in Erinnerung geblieben ist, nämlich, dass für ihn jede ernsthaft betriebene Kunst politisch sei. Okwui Enwezors Ansatz bei der documenta 11, alle Kunst als Wissenserwerb zu verstehen, ist politisch oder auch das investigative Vorgehen Hans Haackes für seinen Beitrag zu den Eigentumsverhältnissen der Museumsförderer in einer Ausstellung des Guggenheim-Museums von 1972. Jüngst las ich über die Künstlerin Anna Ehrenstein, die sagt: »Ich mache immer noch Kunst und keine politische Arbeit. Wir verändern Narrative und keine Gesetze.« Dass sich Gesetze aber verändern, wenn sich zuvor die Narrative verändert haben, ist wiederum politisch denkbar. Die polnische Fotokünstlerin Maja Wirkus, deren eher stille Werke einen starken Architekturbezug aufweisen, meinte anlässlich der Ausstellung »Gute Aussichten« 2019/2020 im Haus der Photographie, dass man sich zu Friedenszeiten in Theorien vergraben könne, doch die Berichte aus Warschau wühlten sie 19 gerade sehr auf. Was dort passiere, bekäme man in Deutschland kaum mit: dass man heute wieder für das kämpfen müsse, wofür schon die Mütter gekämpft hätten. In einer solchen Zeit reiche die Theorie der Fotografie nicht, jetzt müsse sich die Politik in ihre Kunst mischen. Auch das überzeugt. Es gibt da kein Patentrezept.
J.Krb.: Sie haben 2018 die geplante Ausstellung mit Arbeiten von Bruce Weber, er soll sich sexuell übergriffig verhalten haben, »nicht verschoben, sondern auf Eis gelegt«. Derzeit sorgen der »Ziegelneger« von Georg Herold, Ausstellungen mit John Rafman und Philip Guston für Aufregung, Emotionen und kontroverse Debatten. Die sozialen Medien befeuern die Debatte, Bilder, Ausstellungen und Personen geraten in die »Schusslinie«. Kritik wird unversöhnlicher, Rufe lauter und lauter: verschieben, canceln, boykottieren. Wie positionieren Sie sich?
D.L.: Die Deichtorhallen Hamburg stehen in besonderer Weise für Offenheit und Kunstfreiheit in ihren Ausstellungen. Bei Bruce Weber gingen wir selbstverständlich von der Unschuldsvermutung aus. Aber wir befürchteten, dass wir in erster Linie die Sensationsgier der Öffentlichkeit befeuert hätten, hätten wir seine Fotografien gezeigt, solange das Verfahren schwebt. Die vorläufige Absage der Ausstellung von Philip Guston in der Tate wegen der, wie kolportiert wird, Ku-Klux-Klan-Darstellungen in seinem Werk ist für mich hingegen nicht nachvollziehbar. Wir haben Guston 2014 in einer Kooperation mit der Schirn Kunsthalle Frankfurt in der Sammlung Falckenberg präsentiert. Er zeigt die Ku-Klux-Klan-Leute, wie sie alltägliche Dinge verrichten, das heißt, er holt sie vom Sockel herunter. Sie stehen bei ihm für Menschen, die nichts hinterfragen und Teil einer kranken bzw. bösen Gesellschaft sind. Guston zeigt das Böse, weil er es mit seinen Werken bannen will. Das haben schon die Höhlenmaler gemacht, wenn sie Bisons an die Wände zeichneten. Guston zeigt ja auch seine haarigen Beine, er zitiert die Kultur der Comics, in der die schrecklichen Dinge der Welt reflektiert, aber eben auf keinen Fall verherrlicht werden. Dann könnte man auch Marlene Dumas nicht mehr ausstellen, weil sie Osama Bin Laden gemalt hat. Man müsste konsequenterweise die Werke Goyas ins Depot stellen, weil er in seinen Bildern Gewalt vorführt. Es kommt alles darauf an, aus welcher Haltung heraus Künstler*innen etwas darstellen.
J.Krb.: Trotz umgesetzter Hygienekonzepte, Maskenpflicht, Zeittickets, Einlassbeschränkungen gilt der Lockdown auch für Kunst und Kultur. Die Stilllegung des kulturellen Lebens bedroht Existenzen, Einnahmen brechen weg. Und die finanzielle Situation der Deichtorhallen?
D.L.: Wir haben bis jetzt Verluste in einem mittleren sechsstelligen Bereich zu verzeichnen. Die November- und Dezemberhilfen sind zugesagt, und erste Tranchen wurden überwiesen. Was an Einbußen nicht vom Bund ausgeglichen wird, übernimmt dankenswerterweise die Hamburger Behörde für Kultur und Medien mit Carsten Brosda an der Spitze, der Hamburgs Kulturszene sehr gut durch die Krise navigiert. Diese Minusbeträge werden bei fortgesetztem Lockdown noch anwachsen. Auch nach einer Wiederöffnung wird es weiterhin eine reglementierte Besucherzahl in den Hallen geben. Wir rechnen also auch für 2021 mit dramatischen Defiziten durch weniger Eintrittsgelder, Shopverkäufe, Gebühren für Führungen und Workshops sowie Mindereinnahmen aus Parkplatz-, Raum- und Platzvermietungen. Die Corona-Situation bremst zudem Sponsorenaktivitäten. Ausdrücklich positiv ist anzumerken, dass unsere Mitgliedschaften sowohl im Förderkreis als auch im Freundeskreis des Hauses der Photographie absolut konstant geblieben sind.
J.Krb.: Die Corona-Pandemie legt wie ein Brennglas den Finger auf gesellschaftliche Missstände. Wird es nach der Pandemie ein Zurück zur »alten Normalität« geben?
D.L.: Vielleicht. Die zukünftigen Auswirkungen der Pandemie sind noch ziemlich unklar. Von dieser surrealen und zugleich sehr realen weltweiten Bedrohung werden wir uns noch länger erholen müssen. Wie schnell wir zu einer gewissen Normalität zurückfinden, bleibt ungewiss, und die wirtschaftlichen Einbußen im Kulturbereich werden möglicherweise noch in Jahren spürbar sein. Ich glaube andererseits sehr wohl, dass durch die Pandemie ein Umdenken stattfinden wird und es auch Positives gibt, das daraus gezogen werden kann. Ich sehe darin eine Chance, die eigenen Verhaltensweisen grundlegend zu überdenken. Im besten Fall wird das Ganze dazu beitragen, unsere Gewohnheiten umzustellen, zum Beispiel etwas zu ändern, was sich im Sinne der Umwelt sowieso ändern muss.
J.Krb.: Von der Jetztzeit der Blick in die Zukunft. Wir schreiben das Jahr 2030: Akademien, Schulen, Universitäten, Krankenhäuser sind längst privatisiert. Auch die Museen und Kunsthallen folgen einer profitorientierten Wirtschaftslogik, sind in Kapitalgesellschaften umgewandelt und werden an der Börse notiert und gehandelt. Über den Erfolg oder Misserfolg von Künstler*innen entscheiden die Likes in den sozialen Netzwerken. Wird dieses Szenario die Zukunft bestimmen?
D.L.: Nein, das stelle ich mir nicht so vor. Ich vermute, dass es auch weiterhin ein öffentliches Interesse geben wird, das geschützt wird. Man kann nur hoffen, dass aus der aktuellen Corona-Krise keine fatalen politischen Folgen erwachsen und nicht alles der Profitorientierung unterworfen wird. Natürlich werden die sozialen Netzwerke weiter an Bedeutung gewinnen, aber vielleicht nutzen mehr Menschen sie für positive Aktivitäten jenseits von Profitgier. Vielleicht wächst auch das Bedürfnis nach realen Erlebnissen, nach Reflexion und nach Kunst.