Artist Ausgabe Nr. 133
Portraits
Michel Majerus | Jepp Hein | Isaac Julien | Rochelle GoldbergPage
Luise MarchandEssay
Roland SchappertPortrait
Intralocutor: will someone always pay, 2022, Courtesy die Künstlerin,
Foto: Roman Mensing
Foto: Roman Mensing
Textauszug
Rochelle GoldbergDystopische Miniaturlandschaften, ausgedehnte, scheinbar ungebremst wuchernde Bodenskulpturen aus disparaten Materialien,
das Aufeinanderprallen von Organischem und Anorganischem, Glamour und Verfall, Solidität und Fragilität. Derartige Gegensätzlichkeiten, Reibungen, Widersprüche, Antithesen, Antagonismen, Dualismen und Divergenzen kennzeichnen das nur schwer auf einen klaren gemeinsamen Nenner zu bringende Werk der in den verschiedensten Medien arbeitenden kanadischen Künstlerin Rochelle Goldberg.
Die Kunsthalle Lingen zeigte vom 7. Mai bis 3. Juli dieses Jahres die erste institutionelle Einzelausstellung der Künstlerin in Deutschland mit überwiegend neuen, zum Teil eigens für den Ort und die Ausstellung entwickelten Arbeiten. Geboren 1984 im kanadischen Vancouver, hat Rochelle Goldberg zunächst an der McGill University in Montreal und im Anschluss daran am traditionsreichen Bard College of Art in Annandale-on-Hudson im US-Bundesstaat New York studiert. Einer Hochschule, deren exzellenter Ruf mit Persönlichkeiten wie Hannah Arendt, Roy Lichtenstein oder Stephen Shore in Verbindung steht. Rochelle Goldberg lebt mittlerweile in New York und Berlin.
Gleich beim Betreten der Halle in Lingen traf das Publikum auf eine großflächig-amorphe, auf dem Estrichboden sich ausbreitende Bodenskulptur mit dem Titel »If I left a message on her answering machine, she said she would heal me« (2021). Auf dem Boden standen etliche transparente Salatschüsseln, deren Oberflächenmuster an stilisiertes Laub erinnerte. Es handelte sich dabei um eine in vielen deutschen Haushalten anzutreffende Salatschüssel aus Pressglas eines französischen Herstellers, die seit 1978 ununterbrochen produziert wird. Nicht besonders schön, aber offenbar weit verbreitet.
Die Schüsseln enthielten Klumpen getrockneten Tons, aus welchen kleine Bronzestäbchen wie Antennen hervorragten. Zudem befanden sich auf dem Hallenboden noch eine Kühlschranktür und etliche Kieselsteine. Ein großer Teil des Settings war zudem von transparenter Plastikfolie aus dem Malerbedarf bedeckt. Ein weißer Belag aus in Wasser aufgelöstem und überwiegend bereits eingetrocknetem Magnesiumpulver bedeckte große Teile der Folie und des Fußbodens. Dieser teils krustenartig verdichtete, amorphe Überzug vermittelte in der Draufsicht das Bild einer schneebedeckten Landschaft. Die locker gruppierten Salatschüsseln mit der darüber gespannten Folie wiederum ließen Assoziationen an biomorphe Architekturen, wie sie etwa von Richard Buckminster Fuller oder Frei Otto, dem Erbauer des Münchner Olympiastadions, her bekannt sind, zu. Eine gewisse Hermetik, aber auch Dramatik war dem an eine eingefrorene Stadtlandschaft erinnernden Ensemble nicht abzusprechen. Das Symbolische saugte seine Bedeutung hier sozusagen aus dem Prosaischen der verwendeten Materialien.
Zudem enthalten ihre Arbeiten ein vielfältiges Spektrum persönlicher, kunsthistorischer oder auch popkultureller Verweise. In der Lingener Ausstellung tauchten gleich mehrere fragmentierte Bronzefiguren auf, die auf Abgüssen beruhen, die Rochelle Goldberg von Plastikbüsten gemacht hat, die Marilyn Monroe und ihr ähnlich sehende weibliche Figuren in der typischen Pose der Pin-up-Ästhetik darstellen. Goldberg rekurriert mit diesen Arbeiten auf ein vom Hollywood Mainstream der 1950er und 1960er Jahre immer wieder bedientes Klischeebild der ebenso verführerischen wie machtbewusstmanipulativen Femme fatale, welches sie gleichzeitig auch dekonstruiert. Sie arbeitete hier mit schaufensterpuppenartigen Vorlagen, die sie auf Online-Plattformen erworben und dann einem mehrstufigen Transformationsprozess unterzogen hat. Aus immer wieder neuen Wachsabgüssen, die die ursprüngliche Vorlage teilweise durch die »Amputation« oder Verdoppelung einzelner Körperteile manipulierten, schuf sie schließlich Abgussformen für die endgültigen Bronzefiguren, die jetzt unter den Titeln »Intralocutor: someone will always pay« (2022) und »Intralocutor: will someone always pay« (2022) in Lingen zu sehen waren. Die wie vom Meeresgrund geborgene archäologische Fundstücke wirkenden Skulpturen wurden frei im Raum stehend präsentiert und traten den Besucher:innen der Schau mit Höhen von 1,77 cm bzw. 1,80 cm ganz unmittelbar gegenüber. Die Bedeutung der konventionellen Lesart ihrer Vorbilder wurde durch die tiefgreifenden Eingriffe Rochelle Goldbergs kräftig verschoben. Das, was eben noch als popkulturelles Dekorationsmaterial im Wohnzimmer eines Fans gestanden hatte, wirkte plötzlich wie ein aus tiefster Vergangenheit hervorgeholtes Relikt einer untergegangenen Kultur. Formen und Materialien erhalten bei Rochelle Goldberg durch das Durchlaufen mehrstufiger Transformationsprozesse und das Übersetztwerden in andere Stofflichkeiten neue symbolische und allegorische Aufladungen. Zwischenzustände und Ambivalenzen werden bewusst hergestellt und zugelassen. So werden gekeimte Chia-Samen zum Beispiel mit Schellack überzogen, um ihr weiteres Wachstum zu stoppen.
Die Künstlerin selbst hat ihr Interesse an der Fluidität des Materials und am Spiel mit den ihm innewohnenden Widersprüchen einmal in einem Interview so beschrieben: »Die Frage der Materialität bildet einen Nährboden, auf den wir einwirken können, und der wiederum auf uns einwirkt. Es geht in beide Richtungen. Die materielle Präsenz selbst kann dabei auch auf ihre Abwesenheit hindeuten. So wird die Unschärfe zwischen diesen beiden Zuständen betont. Ich neige dazu, materielle Rahmenbedingungen zu erforschen, die einen Oxymoron-Status initiieren, um ihn dann aufzulösen.«
Rochelle Goldberg, das zeigte auch ihre sehr durchdachte und konzeptionell überzeugende Ausstellung in der Kunsthalle Lingen, testet mit ihren mal vertraut, mal vollkommen rätselhaft erscheinenden Werken unsere Assoziations- und Projektionsbereitschaft aus, indem sie uns mit ambivalenten Settings konfrontiert und die instabilen Fundamente unserer Zivilisation und unseres eigenen Seins und Vergehens immer wieder unter die Lupe ihrer künstlerischen Praxis nimmt.
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