vergriffen
Artist Ausgabe Nr. 94
Portraits
Julia Schmid | Tue Greenfort | Kerstin Cmelka | Frank Stella | Kris MartinEssay
Textauszug
»Von der Autonomie der Autonomen«Die Autonomie der Kunst scheint in Gefahr zu sein. Immer mehr Kritiker und Theoretiker befürchten nämlich, dass heute produzierte Kunstwerke ihre Unabhängigkeit von Moral, Nutzen und gesellschaftlichen Interessen verlören. Und Schuld daran sei der Versuch, die Kunst, angesichts z. B. von neoliberaler Globalisierung und ungehemmter Klimakatastrophe, zu politisieren. Ein Paradebeispiel für diese Angst stellt die ungewohnt polemische Kritik der bürgerlichen Wochenzeitung »Die Zeit« an der letztjährigen Berlin Biennale 7 dar. Unter dem vielsagenden Titel »Die Ohnmacht der Parolenpinsler« schrieb Hanno Rauterberg im Mai 2012: »Offenbar wollen diese Künstler keine Künstler mehr sein, sie wollen raus aus dem Reich des Symbolischen, rein ins Reale. Und keiner sollte sie aufhalten: Gute Erzieher im Kindergarten werden dringend gebraucht«.
Künstlerische Autonomie ist aber sicher nicht mehr gefährdet von einer Politisierung der Kunst. Über eine solche schrieb Igor Stokfiszewski kürzlich an angegebener Stelle: »Die politische Kunst postuliert den Vorrang der Praxis des Lebens vor der Ästhetik und die Überlegenheit des Kollektiven über das Individuelle; … sie will gezielt in die außerkünstlerische Wirklichkeit eingreifen und - auf dem Wege der Überwindung sozialer Widersprüche … - zur Schaffung einer universalisierten Zukunftsgesellschaft beitragen«.
Die »Abgehobenheit von der Lebenspraxis« wird hier konsequent verabschiedet, die »Unabhängigkeit des Kunstwerks von der Gesellschaft« ebenso – wird damit aber auch die Freiheit der Kunst aufgegeben? Eben nicht: Gerade weil unter dem Begriff der Autonomie diese Freiheit gesichert wurde, kann jetzt diese Freiheit (aktivistisch) genutzt werden, um z. B. gegen »soziale Widersprüche« zu kämpfen, im »Kindergarten« genau so wie durch das Okkupieren politischer, ökonomischer und kultureller Schaltstellen. Überaus unfreie Betriebssysteme wie die längst überwiegend von den Global Playern finanzierte Wissenschaft, die dem Markt geopferten, einst kritischen Medien oder die »offizielle« Politik
- Stichwort: »Postdemokratie« (Colin Crouch) - erlauben solch’ emanzipative Basisarbeit längst nicht mehr, denn nur im Feld der Künste »hat man uns Freiheit gelassen«, wie der Philosoph und Aktivist Günther Anders es in seinen Buch »Die Antiquiertheit des Menschen«, schon 1956 beschrieb. Der von Igor Stokfiszewski in seinem wichtigen Text geforderte »Eingriff in die außerkünstlerische Wirklichkeit« setzt außerdem, Lucy R. Lippard hat es angedeutet, ästhetische Kräfte frei, engagierte Kräfte, die Kunst jenseits der etablierten Interessen von Galerie und Museum wieder im wahrsten Sinne des Wortes notwendig machen.