Essay

Textauszug

»Wozu Kunstkritik?«
Ein Grund für die Schwäche der Kunstkritik, der sich unisono durch viele Polemiken zieht und dort wie ein böses Mantra beschworen wird, ist was Rauterberg den »unreinen« oder »hybriden« Status des Kritikers nennt, der nicht in der Lage sei, seine eigenen Grenzen so zu bestimmen, wie er es sollte. Er schreibt: »Vor Grenzziehung scheuen die meisten Kritiker zurück. Sie lieben die Rolle des Hybriden: Mal rezensieren sie Ausstellungen, dann wieder richten sie diese aus; mal besuchen sie eine Galerie als Abgesandte der veröffentlichten Meinung, dann mimen sie dort den Vernissagen-Redner, bezahlt vom Galeristen; mal beraten sie Sammler und Museen, dann schreiben sie über diese; mal sind sie Freund des Künstlers, mal sein Kritiker. Längst ist das Unreine zum Leitbild geworden. Künstler treten auf als Kritiker, Kritiker treten auf als Kuratoren, Kuratoren treten auf als Künstler, Künstler treten auf als Kuratoren. Ein jeder kann auch ein anderer sein.« Dass die Übernahme verschiedener, teils widersprüchlicher Rollen für den Kritiker eine Gefahr sein kann, liegt auf der Hand. Wohl gemerkt: kann, nicht muss! Denn der kleinste gemeinsame Nenner all der beschriebenen Tätigkeiten, Rezensent, Kurator, Eröffnungsredner, Katalogautor, Berater, ist die Kunst. Und insofern könnten theoretisch all diese Aktivitäten voneinander profitieren und ihren Träger zu einer interessanteren, kompletteren und fähigeren Persönlichkeit machen. Wichtig wäre natürlich, dass der Kritiker als Träger dieser unterschiedlichen Tätigkeiten und Kompetenzen in der Lage und willens ist, die Dinge auch getrennt zu halten. Dass er also nicht die Idee hat – was schon vorgekommen sein soll –, eine von ihm ausgerichtete Kunstausstellung als Kritiker zu rezensieren oder über Künstler als Kritiker zu urteilen, für die er im selben Atemzug als Förderer und Unterstützer ihres Werks einen Katalogtext verfasst.

Vor dem Hintergrund dieses spezifischen Status der Kunst erschließt sich unmittelbar die schöne Empfehlung von Bertold Brecht, vor der Kunst solle jeder zu seinem eigenen Columbus werden. Aber die Reise zur Kunst stellt sich für viele Betrachter oft noch schwieriger dar als einst die Entdeckung Amerikas für seinen Entdecker. Zu unzugänglich, zu abweisend und hermetisch scheint die Kunst oft zu sein. Und da setzt, wie wir es verstehen, die eigentliche und noble Aufgabe des Kritikers ein: Übersetzer, Vermittler und Kommunikator zu sein zwischen Werk und Betrachter. Jemand, der deutlich macht, dass er gleichfalls einen radikal subjektiven Blick auf das zu beurteilende Werk wirft, aber in der Lage ist, seinen Blick für den Betrachter plausibel und nachvollziehbar zu machen. Der, um an Baudelaire zu erinnern, parteiisch, leidenschaftlich und politisch an der Seite der Kunst steht und zugleich streng auf ihren Wert und ihre Qualität achtet und das Urteil über sie nicht scheut, wobei er stets das Ureigene der Kunst im Blick hat: ihr Ästhetisches. Der weiß, dass die Kunst kein ökonomisches, ökologisches, soziologisches, psychoanalytisches (oder was auch immer) Seminar ist, obwohl sie Themen und Motive aus all diesen Feldern und weiteren verhandeln kann und soll. Aber eben ästhetisch, nicht propagandistisch. Was den kanonischen Worten von Gottfried Benn entspricht: »Die Kunst ist Form, oder sie ist nicht.« Inmitten eines »Anything goes« in der Kunst, sollte sich der heutige Kritiker statt an postmoderne Beliebigkeit besser an eine strenge Maxime von Friedrich Schlegel halten. In seinem Fragment »Vom Wesen der Kritik« schreibt er: »Es ist nichts schwerer, als das Denken eines anderen bis in die feine Eigentümlichkeit seines Ganzen nachkonstruieren, wahrnehmen und charakterisieren zu können ... Und doch kann man nur dann sagen, dass man ein Werk, einen Geist verstehe, wenn man den Gang und Gliederbau nachkonstruieren kann. Dieses gründliche Verstehen nun, welches, wenn es in bestimmten Worten ausgedrückt wird, Charakterisieren heißt, ist das eigentliche Geschäft und innere Wesen der Kritik.« Dieser Prozess ist zwar schwer, ermöglicht aber eben auch das Erkennen von Qualität.

Michael Stoeber