vergriffen
Artist Ausgabe Nr. 111
Portraits
Bethan Huws | Alexandra Bircken | Julian Öffler | Annette Kelm | Katja AuflegerInterview
Christina Végh, Direktorin, Kestner Gesellschaft, Hannover, Foto: Ulrich Prigge
Textauszug
Christina VéghJ.Krb.: Zeitgenössische Kunst ist heute überall zu sehen. Sei es in Kunsthallen, Museen, Städtischen Galerien, sei es in Privatgalerien und auf Kunstmessen. Demnach hat sich das ursprüngliche Arbeitsfeld der Kunstvereine ausgedünnt, sie haben ihre exklusive Rolle in der Vermittlung zeitgenössischer Kunst verloren. Sofern sich allerdings die Kunstvereine museal positionieren, setzen sie ihre Existenzberechtigung leichtfertig aufs Spiel. Wie bestimmen Sie die Aufgabe der Kunstvereine heute?
C.V.: Mehr denn je liegt die Aufgabe des Kunstvereins meiner Ansicht nach in der Konzentration auf die unmittelbare Gegenwart. Gerade vor dem Hinblick, dass die Gegenwartskunst heute viel mehr Orte hat als noch vor fünfzig Jahren, ist eine stärkere Profilierung und Spezialisierung erforderlich, die es schließlich möglich macht, Differenzen zu anderen Häusern produktiv auszuspielen. Dabei ist die Trägerschaft der jeweiligen Institution, ihre Struktur, ihre Geschichte und ihr geografischer Ort essentiell für die Herausbildung eines Profils. Das Wagnis ist weiterhin die Stärke der Kunstvereine, ebenso die besondere Verbundenheit in die Stadtgesellschaft durch die Mitgliederstruktur. In Bonn haben wir im Kunstverein gemeinsam mit dem Kunstmuseum Bonn eine Probe aufs Exempel gemacht und tatsächlich denselben Künstler – John Baldessari – eingeladen. Gemündet ist die Kooperation in eine zweiteilige Ausstellung, die ausgehend von der Musikstadt Bonn, im Kunstmuseum zu einer retrospektiv angelegten Übersicht wurde. Im Kunstverein wiederum hat Baldessari eine ortsspezifische Installation entwickelt, in der eines der im Beethoven Haus ausgestellten Hörrohre eine prominente Rolle spielt. Überspitzt könnte man sagen, die Einladung nutzte Baldessari, um selbst im hohen Alter etwas Neues zu wagen und legte ein skulpturales und interaktives Werk an.
J.Krb.: Vielerorts Entgrenzungen und Aufgabe eingeübter Demarkationslinien. Für die einen soll Kunst nur sein und sich selbst genügen, für die anderen hat Kunst Dienstleistungen zu erbringen, die einen favorisieren die klassischen Arbeitsfelder, andere arbeiten mit Migranten zusammen. Die einen arbeiten mit dem Beitel von außen nach innen und präsentieren als Ergebnis eine Skulptur, die anderen sind längst in virtuelle Welten abgetaucht. Derzeit scheint jede stilistische Äußerung und Haltung möglich, verfügbar und daseinsberechtigt. Wie unterscheiden Sie zwischen Beliebigkeit und Vielfalt?
C.V.: Entgrenzungen oder das Überschreiten von Demarkationslinien, ich glaube, das sind treffende Eigenschaften der klassischen Moderne und ebenso könnte man Auffassungen der Renaissance unter diesem Gesichtspunkt sehen. Mit anderen Worten, ich möchte nicht abstreiten, dass beispielsweise performative Ansätze in den letzten Jahren enorm zugenommen haben, mit der relationalen Ästhetik Formen der Dienstleis-tung ins Werk inkorporiert wurden, mittels partizipativer künstlerischer Ansätze sich Autorenschaft verschiebt und möglicherweise Migranten zu Protagonisten werden. In einer Welt, in der fragwürdige globale Wertschöpfungsketten entstehen, kann eine mögliche künstlerische Antwort darin bestehen, Formen der Verweigerung zu suchen, beispielsweise indem die künstlerische Autorenschaft destabilisiert oder verunklärt wird. Hinzu kommt, dass wir schon lange von einer Globalisierung sprechen, das heißt, es gibt schon seit einigen Jahrzehnten mehr Künstlerinnen und Künstler und Kunstszenen und Zentren. Entsprechend unübersichtlich, aber auch vielfältiger fallen künstlerische Positionen aus. Die Spannungen, die dabei in einer Debatte entstehen, sind ungleich größer, denn die im Feld der Kunst angelegten Formen der Kanonisierung, egal ob kunsthistorisch oder den Kunstmarkt betreffend, implizieren Ein- und Ausschlussmechanismen und damit Machtstrukturen. Entsprechend ist so etwas wie eine Deutungshoheit ungleich komplexer, umkämpfter geworden. Symptomatisch hierfür ist die jüngst an der Whitney Biennale entbrannte Kontroverse um ein Gemälde von Dana Schutz, ebenso meiner Ansicht nach in positivem Sinne die documenta. Aber zurück zu Ihrer Frage. Gerade weil sich die Kunstwelt vergrößert hat und wir heute von nicht einer Geschichte (der Kunst), sondern mehreren Geschichten sprechen, ist Vielfalt Voraussetzung. Solange Schwerpunkte gesetzt und präzise verfolgt werden, ist meiner Ansicht nach nicht das eine richtig oder falsch. Beliebigkeit macht sich breit, wenn sich keine Programmatik vermittelt, Argumentationslinien fehlen, Kenntnis fehlt.
J.Krb.: Leider wird heute die Kunst zusehends bedeutungsschwanger aufgeladen. Kunst habe politisch korrekt zu sein, dem Fortschritt zu dienen, den drohenden Klimawandel zu thematisieren und die Menschen zum Besseren zu erziehen. Insbesondere die Kulturpolitik zeigt einen starken Hang, Kunst zu instrumentalisieren und sie zur Lösung politischer Probleme heranzuziehen. Allerdings macht die Kunst weder bessere Menschen aus uns noch ist sie die Reparaturwerkstatt der Gesellschaft. Welche Rolle kann die Kunst in einer neoliberalen und globalisierten Welt einnehmen?
C.V.: Ich bin froh, dass Sie diese Frage stellen, denn in der Tat sind die hier von Ihnen angesprochenen Aspekte heute, da wir zu Spezialisten der Effizienzsteigerung und Optimierung geworden sind, bedrohlich für die Kunst und die Existenz unserer Räume. Gemeinhin wird der Bereich in der Kulturpolitik gerne als Luxus dargestellt, aber es gibt zahlreiche Beispiele wie gerade in Kriegen und anderen existentiellen Momenten die gesellschaftliche Wirkungsmacht von Kunst auffällig groß ist. In bedrohten Momenten ist die Hinwendung zum Künstlerischen ein Mittel an Identität und Menschlichkeit festzuhalten, der Aufschrei über zerstörte Kulturgüter kommt bei weitem nicht von Fachleuten allein. Sinn und Zweck, die Stärke von Kunst, ist ihre Fähigkeit, gesellschaftliche Werte zu vermitteln und damit Gemeinschaften zu formulieren. Wenn unter »politisch korrekt« ein respektvoller Umgang miteinander gemeint ist, denke ich, könnte man viele Werke darunter fassen. Trotzdem sind die Werke per se niemals »political correct«, sondern sie sind ein Mittel, um über die Frage des Umgangs miteinander – zur Identitätspolitik – anzuregen.
J.Krb.: Sie wollen Tradition und Moderne miteinander verschränken, unterschiedliche Generationen in Dialog zueinander setzen. Warum dieser kuratorische Blick auf die Vergangenheit?
C.V.: Mir ist es wichtig, als Institution unterschiedlichen Ansätzen von Geschichten zu folgen. Das machen Museen auch, allerdings stehen deren Geschichten – hoffentlich – in einem Zusammenhang zur Sammlung. Wir sind freier und beweglicher bei Schwerpunktsetzungen. Nichtsdestotrotz haben wir den Anspruch, so etwas wie »ordnende« Spuren in der Ausstellungstektonik sichtbar zu machen. Ich möchte mich sehr distanzieren von einem Durchlauferhitzer. Wechselausstellungshäuser ohne Sammlung laufen schnell Gefahr, in der großen Vielfalt eher beliebig einfach das Neueste oder Bekannteste auszustellen.
J.Krb.: 1997 bezog die Kestner Gesellschaft nach einem Umbau das ehemalige Jugendstilbad in der Goseriede am Steintor. Der intime Charakter der Räume in der Warmbüchenstraße wurde aufgegeben, dafür stehen seitdem vier Hallen mit 1.500 qm Ausstellungsfläche zur Verfügung. Unter der Ägide von Carl Haenlein wurden vornehmlich große Namen vorgestellt. Veit Görner setzte zwar auf große Namen, war aber näher an der Gegenwart dran: Pipilotti Rist, Heimo Zobernig, Kris Martin, Michael Sailstorfer, Santiago Sierra, Alicja Kwade, Michel Majerus. Mir ist im besonderen Sierra in Erinnerung geblieben. 2005 flutete Sierra das Erdgeschoss des 1997 bezogenen neuen Hauses mit moorigem Schlamm. Er wollte so die NS-Arbeitsbeschaffungsmaßnahme zum Aushub des Maschsees exemplarisch für die politischen Verstrickungen in Erinnerung rufen. Kann Kunst, soll Kunst politisch sein?
C.V.: Auch mit mir wird es ab und an große Namen geben, sofern sie Zusammenhänge sichtbar machen, in einen der angelegten programmatischen Stränge der Ausstellungstektonik passen. Ob Kunst politisch sein muss? Ich denke, jede (gute) Kunst ist per se politisch, da sie appelliert, die eigene Betrachtungsweise zu hinterfragen. Die Präzision, mit der beispielsweise Annette Kelm das fotografische Bild und seine Rahmenbedingungen befragt, sehe ich vor dem Hintergrund der Bilderflut als wesentlich »politischer« an als manche andere Position, die auf den ersten Blick direkter auf spezifische Probleme in der Welt eingeht, dabei aber künstlerische Mittel zugunsten soziologischer aufgibt.
J.Krb.: Auch zeigten Sie zwei Malereiausstellungen: Monika Baer und Rochelle Feinstein. Warum haben Sie sich für diese Künstlerinnen entschieden?
C.V.: Das Medium Malerei ist aus meiner Warte sehr herausfordernd. Es hat die längste Geschichte und zugleich erhält es in der Medienflut, in der Differenz zum allumfassenden fotografischen und digitalen Bild, neue Aufgaben und eine Wertigkeit, die es aus der Differenz bezieht. Während Monika Baer es versteht, den Raum der Malerei als einen performativ und theatralisch aufgeladenen zu inszenieren und dabei die Historizität des Mediums humorvoll vor Augen zu führen, geht es Rochelle Feinstein darum, gesellschaftspolitische Fragen aus einer radikal subjektiven Warte mit den Mitteln der Malerei ins Bild zu setzen. In beider Werk kommt zum Vorschein, dass die Malerei, da historisch männlich dominiert, alles andere als neutral ist, das heißt emanzipatorische Fragestellungen sind mit eingeschlossen.
J.Krb.: Den größten Publikumserfolg hatte die Kestner Gesellschaft 1985 mit der Chagall Ausstellung. 81.000 Besucher kamen und 60.000 Kataloge wurden verkauft. Heute wäre Chagall in der Kestner Gesellschaft ein Unding, so denke ich. In den 1960/70er Jahren galt die Gleichung, je weniger Besucher eine Ausstellung hat, desto besser die Kunst. Inzwischen verschränken sich deskriptive und normative Kategorien, monetäre Erfolge ziehen kunstgeschichtlichen Glanz nach sich, Besucherzahlen gelten als Maß aller Dinge und Beleg der eigenen Vortrefflichkeit. Sind Sie frei von jeglichem Quotendruck?
C.V.: Ich stimme Ihnen zu, dass Chagall in der Kestner Gesellschaft heute undenkbar wäre, obschon wir die räumlichen Voraussetzungen dafür hätten. So lange ist das ja noch gar nicht her, was darauf hinweist, wie umfassend sich doch unsere Arbeit verändert hat. Mit der so genannten Professionalisierung sind alle Beteiligten stärker zu Spezialisten geworden. Chagall heute in der Kestner Gesellschaft ist allenfalls vorstellbar, wenn eine Künstlerin oder ein Künstler, dieses innerhalb eines Projektes in der einen oder anderen Form initiieren würde. Cy Twombly war im übrigen 1976 eine Ausstellung mit außergewöhnlich wenig Besuchern, auf die man heute stolz sein kann. Trotzdem ist die Gleichung, je weniger Besucher, desto besser, naiv und zu kurz gegriffen. Es ist sehr wohl wichtig, dass Kunstvereine dem Druck der Besucherzahlen weniger stark ausgesetzt sind als andere Kunstinstitutionen. Das macht einen wichtigen Teil ihrer Stärke aus, denn dies erst ermöglicht es, Neues zu erproben. Allerdings, eine Ausstellung, die niemand sieht, nutzt niemandem. Natürlich interessieren mich Besucherzahlen, wenn man den Anspruch hat, überregional und international wahrgenommen zu werden, sind auch Besucherzahlen relevant. Es gibt jedoch zahlreiche weitere Faktoren, die ich als Erfolg sehe und anstrebe. Sehr wichtig zum Beispiel ist mir eine Ausstellung so zu planen, dass es für die jeweiligen Künstler eine wichtige Station im eigenen Werdegang darstellen wird. Dieser Punkt ist natürlich nicht so einfach messbar wie Besucherzahlen und bildet sich von außen auch nicht so einfach ab. Ich glaube aber, dass die längerfristige Reputation eines Hauses viel mehr hiervon abhängt als von Besucherzahlen. Wenn die Kestner Gesellschaft jemals ausschließlich nach Besucherzahlen ausgerichtet gewesen wäre, dann hätte es unter anderem die besagte Cy Twombly-Ausstellung nicht gegeben.