Artist Ausgabe Nr. 74

Portrait

Textauszug

Elina Brotherus
Zwei Künstlerinnen der Gegenwart stehen geradezu beispielhaft für diese unterschiedliche Form des Selbstporträts. Zugleich werden in den Bildstrategien auch unterschiedliche Ansprüche an die künstlerische Fotografie deutlich. Cindy Sherman nutzt die inszenierte, präzise bis ins Detail durchgeplante und komponierte Fotografie, in der sie in immer neue Rollen schlüpft, um die Emanzipation der Frau voranzutreiben und zugleich Gesellschaftskritik zu üben. Nan Goldin stellt sich in die Tradition der straight photography.

In gewisser Weise zwischen diesen beiden Künstlerinnen agiert die junge finnische Fotokünstlerin Elina Brotherus, Jahrgang 1972, die erst ein Chemiestudium absolvierte, bevor sie sich der Fotografie zuwandte. Statt in Rollen zu schlüpfen wie Cindy Sherman, spiegeln ihre Porträts sehr explizit Lebensstationen. Sie bleiben ähnlich wie bei Nan Goldin eng mit der eigenen Biographie verbunden und lesen sich zum Teil wie ein visuelles Tagebuch. Auch wenn Brotherus keinen Zweifel daran lässt, dass es ihr darum geht, die engen Bezirke des Privaten für eine Begegnung des Betrachters mit sich selbst zu öffnen. Die sorgfältige Inszenierung der Bilder von Brotherus erinnert an Sherman. Sie arbeitet mit Groß- und Mittelformatkameras und langen Belichtungszeiten. Die Abzüge zeigen das Gesicht der Welt und der Protagonistin unverstellt und porentief aufeinander bezogen. Selbstbetrachtung ist bei Brotherus immer auch Weltbetrachtung.

Michael Stoeber