vergriffen
Artist Ausgabe Nr. 93
Portraits
Hans Op de Beeck | Christian Helwing | Vlassis Caniaris | Gillian Wearing | Elianna RennerPortrait
Signs that say what you want them to say and not Signs that say what someone else wants you to say, WORK TOWARDS WORLD PEACE, 1992-93, C-Prints auf Aluminium montiert, 44,5 x 29,7 cm, Foto: © the artist, Courtesy Maureen Paley, London, 2012, © Kunstsammlung NRW
Textauszug
Gillian WearingMit der Fotoserie »Signs that say what you want them to say and not Signs that say what someone else wants you to say?, fing alles an. Wie eine Regieanweisung kommt der Titel daher und bringt die an der Kunstgeschichte wie den damals noch „Neuen Medien“ geschulte Ästhetik von Gillian Wearing auf den Punkt. Bei den »Signs«handelt es sich um meist kurze, persönliche Wort-Botschaften, die von zufälligen Passanten eigenhändig auf ein großes weißes Blatt Papier gekritzelt und wie Transparente oder eben „Zeichen“ in die Kamera gehalten wurden. In den Jahren 1992/93 entstanden auf diese Weise rund 600 Fotos. Sie wirken so überraschend und gleichzeitig überzeugend, dass sie ihre Urheberin mit einem Schlag bekannt machten und sofort von der Werbeindustrie kopiert wurden. Tatsächlich haben sie einen großen Anteil an einer neuen intermedialen Kunstform.
Gillian Wearing, geboren 1963 in Birmingham und den »Young British Artists« zugeordnet, erhielt 1997 den Turner Prize für ihr Video »Sechzig Minuten Stille«, bei der sich 26 Personen in Polizeiuniform eine Stunde lang vor der Filmkamera zu einer Neuinterpretation des klassischen Genres Gruppenbild positionieren. Sie war nicht die einzige, die sich Anfang der neunziger Jahre mit einer vor allem durch die Erfahrung mit dem Massenmedium Fernsehen veränderten Wahrnehmung auseinandersetzte. Mit „Signs“ findet sie jedoch zu einem ganz eigenen Ansatz, der bis heute für ihre Arbeit kennzeichnend geblieben ist: Ihren Fotografien, Filmen und Videoinstallationen geht ein präzise formuliertes Setting voraus, das sich durch die performative Einbeziehung von zufälligen Akteuren, Passanten oder per Inserat mit ihr in Kontakt getretenen „Mitspielern“ erst mit Inhalt füllt. Durch den konstituierenden Anteil dieser Akteure, die Wearing aus der außerhalb eines künstlerischen Schutzraums existierenden Realität hereinholt, verändert sich das Werk nach seinen eigenen Gesetzmäßigkeiten und entzieht sich weitgehend der künstlerischen Kontrolle.
Schon bei den schnappschussartigen Aufnahmen von »Signs« haben wir es mit einer Mischform zu tun: Die Kamera konzentriert sich ganz auf die Personen und ihre Botschaften, die frontal aufgenommen werden, während formale Kriterien wie Komposition und Räumlichkeit bei der Aufnahme keine Rolle zu spielen scheinen. Das Foto wird zum Dokument einer Interaktion, bzw. deren Ergebnis. Die Handlung des Ansprechens, Erklärens, Überzeugens, die Zeitspanne, die zur Formulierung der Aussage benötigt wird, schließlich die Vollziehung des Niederschreibens bis zum sich vor der Kamera in Positur stellen – die gesamte Dynamik dieses Prozesses wird ausgeklammert. Was die Teilnehmer bewogen haben mag, ihr Innerstes nach außen zu kehren und öffentlich zu präsentieren, spielt bei der Betrachtung der Fotos eine ebenso große, wenn auch unterschwellige Rolle, wie die Botschaft selbst und ihr Verhältnis zu ihrem Repräsentanten. Es ist möglich, dass die Passanten davon ausgingen, dass ihnen dieser Ausflug in unbekanntes Terrain eine gewisse Anonymität zusichert. Die Selbstdarstellung unter künstlerischen Vorzeichen liegt für die meisten außerhalb der Erfahrung und scheint für einen Moment ebenso fern des täglichen Lebensbereichs wie der Auftritt in einer Fernsehshow. Der smarte Geschäftsmann oder Banker, der sich zu der schriftlichen Äußerung »I´M DESPERATE« (Ich bin verzweifelt) hinreißen ließ und damit eine inzwischen berühmt gewordene Ikone der möglichen Abgründe zwischen äußerem Erscheinungsbild einer Person und ihrer inneren Verfasstheit schuf, soll laut Auskunft der Künstlerin fast fluchtartig den Tatort verlassen haben, nachdem das Foto geschossen worden war.
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