Portrait

Jean Guillaume Ferrée, Défaillance de credules, 1970/2014, mixed media, 250 x 150 x 300 cm, Exhibition and Location: Paula Modersohn-Becker Kunstpreis, Große Kunstschau Worpswede

Textauszug

Dirk Dietrich Hennig
Geschichtsintervention« nennt Dirk Dietrich Hennig seine Strategie, fiktive Künstler und ihr Œuvre in die Kunstgeschichte einzuschmuggeln, was er mit einer detailversessenen Gewissenhaftigkeit betreibt, die es erschwert, seine Manipulationen zu durchschauen. Weil die erfundenen Quellen mit der Zeit zwangsläufig authentische Quellen hervorbringen und die egalitäre Struktur des Internets mit seinen digitalen Datenbanken jede Art historischer Zuordnung plausibel erscheinen lässt, führen die von Hennig einmal implantierten Gestalten ein virulentes, sich selbst beglaubigendes Eigenleben. Auf diese Weise hat der fiktive slowenische Dichter Victor N. Gaspari den Weg in einen Slowenien-Reiseführer gefunden.(4) Der Fall des Mörders Alphons Erhard Schlitz, der laut Hennig an der Eisenbahnstrecke Worpswede/Bremen fünf Mädchen mit Namen Paula getötet haben soll, wird zur Grundlage eines »auf wahren Begebenheiten beruhenden« historischen Romans von Hans Garbaden.(5) Und die Internet Movie Database weist die Musik des Komponisten Gustav Szathmáry (1867-1907), den Hennig mit einem tragischen Leben und einer Liebesaffäre mit Paula Modersohn-Becker ausgestattet hat, als Soundtrack des portugiesischen Kurzfilms »Flor e Eclipse« (2013) aus.(6) Fakten und Fiktion gehen eine symbiotische Beziehung ein.

Die kulturkritische Qualität, die Hennigs Geschichtsinterventionen auszeichnet, offenbart sich bei ihrer Entlarvung. Einmal aufgedeckt, verraten die Manipulationen Entscheidendes über den Kunstbetrieb. Sie geben Auskunft darüber, welche Kriterien von Originalität und Echtheit gegenwärtig ausschlaggebend sind, welche Erwartungshaltungen und kuratorischen Zwänge das System beherrschen.

Wenn er seinem Protagonisten Jean Guillaume Ferrée seit 2003 regelmäßig zu fabelhaften Auftritten verhilft, dann trotz des Umstandes, dass dessen Genese längst allenthalben bekannt ist. Im Rahmen von »Made in Germany Zwei« hat Hennig die monumentale Installation »Centre Hospitalier Spécialisé« (2012) in der Kestner Gesellschaft Hannover realisiert. Eine Rekonstruktion jener psychiatrischen Anstalt, in der der Belgier Ferrée in den 1960er und 70er Jahren zeitweilig untergebracht worden sein soll. Die retrograde temporäre Agnosie, eine besondere Form des Gedächtnisverlustes, scheint die Therapie notwendig gemacht und Ferrée dazu veranlasst zu haben, sich seiner Umwelt durch Modelle und Collagen zu vergewissern. So taucht die Klinikzelle als akribisch ausgearbeiteter Architekturbaukasten innerhalb der Installation noch einmal auf – eine mise en abyme, Auftakt unendlicher Wiederholungen und Metapher für den Abgrund der Krankheit. Dass Ferrée ihr nicht entkommen wird, dokumentiert eine Fülle von Archivmaterial: Arztbriefe, Zeitungscover, Magazine und schließlich die Nachricht seines Selbstmords.

Für das Konzept Jean Guillaume Ferrée und die Konsequenz, mit der an seinem Beispiel Zeitgeschichte und Kunstbetrieb souverän thematisiert werden, hat Hennig gerade den Paula Modersohn-Becker Kunstpreis 2014 erhalten. Die aus diesem Anlass eingerichtete Ausstellung in der Großen Kunstschau Worpswede verortet den Autodidakten Ferrée nachdrücklich als Künstler zwischen Fluxus und Art brut. Ein riesiger Guckkasten in der Tradion jener Papiertheater, die das 19. Jahrhundert hervorgebracht hat, entführt hier in eine Kulissenwelt aus bizarren Industriegebäuden und Häuserschluchten. Menschliche Gestalten türmen sich wie Müll, grinsen, lachen, starren uns an, Wolkenbänder dräuen über der Szene. Ein Wirbel scheint dieses papierene Multiversum zu erfassen, vor dessen Gewalt alles kapituliert. Wie eine Zwangshandlung wirkt da der schöpferische Akt, ein vergeblicher Versuch Ferrées, dem Chaos Struktur und Ordnung zu geben.

Kristina Tieke