Artist Ausgabe Nr. 122

Portraits

Chris Drange | Hassan Khan | Norbert Schwontkowski | Sophie Thun

Interview

Nadja Quante

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Pia Pollmanns

Edition

Pia Pollmanns

Portrait

Double Release / autocunnilingus / the letting go (Y93M7D+56F8m18,002CA3b100I180), 2018, analogue colour photography, photogram, metal and magnets,
ca. 280 x 127 cm, Courtesy the artist and Sophie Tappeiner, Photography: Maximilian Anelli-Monti (now owned by Sammlung Verbund, Vienna)

Textauszug

Sophie Thun
Fotografieren heißt, sich das fotografierte Objekt aneignen. Es heißt, sich selbst in eine bestimmte Beziehung zur Welt setzen, die wie Erkenntnis – und deshalb wie Macht – anmutet«, so die New Yorker Schriftstellerin und Philosophin Susan Sontag (1933-2004) in ihrem 1977 erschienenen Essay »In Platos Höhle«. Sich selbst zu fotografieren, hieße demzufolge, sich das fotografische Bild vom eigenen Körper anzueignen, es in bestimmte Beziehungen zur Welt zu setzen und daraus Erkenntnis abzuleiten. Genau das praktiziert die 1985 in Frankfurt am Main geborene und heute in Wien lebende Künstlerin Sophie Thun auf vielfältige Art und Weise. Sophie Thun ist in Polen aufgewachsen. Sie hat zunächst in Krakau und im Anschluss daran von 2010 bis 2017 bei Daniel Richter und Martin Guttmann an der Akademie der bildenden Künste Wien Malerei und Fotografie studiert.

Fast immer ist auf ihren neueren Aufnahmen sie selbst mit einem Selbstauslöser in der Hand zu sehen. So zum Beispiel in der seit 2019 als fortlaufendes Projekt entstehenden Serie »After Hours«. Es handelt sich um analoge Schwarz-Weiß-Abzüge, die die unbekleidete Künstlerin in verschiedenen Interieurs zeigen. Die meisten davon sind Hotelzimmer, andere mietbare Unterkünfte oder halböffentliche Orte, darunter ein Hamam. Stets ist die Künstlerin zwei Mal zu sehen, und zwar in Posen, die Assoziationen an diverse sexuelle Praktiken und weibliche Unterwerfung wachrufen. Um diesen Effekt zu erzeugen, hat Sophie Thun sich in den jeweiligen Räumen in verschiedenen Posen inszeniert und aufgenommen. Die dabei entstandenen Schwarz-Weiß-Negative hat sie dann
mit der Schere diagonal auseinander geschnitten und so wieder zusammengefügt, dass der Aufnahmeort und das verdoppelte Selbst durch den Akt der Belichtung in der Dunkelkammer ein neues Bild ergeben.

Die Methode der künstlerischen Intervention und die Konstruktionsweise dieser Bilder werden von Sophie Thun stets offen
gelegt. So ist zwischen den beiden Bildhälften immer ein kleiner Spalt zu sehen, der sich wie eine schwarze Linie durch den gesamten Abzug zieht. Außerdem ist zwischen den beiden zusammengesetzten Bildhälften ein kleiner, minimaler Versatz erkennbar. Sozusagen um die rein analoge Erzeugung dieser Paarungen noch weiter zu unterstreichen, sind auf dem finalen Abzug auch die beiden Hände der Künstlerin als weiße Leerstellen zu sehen, wie sie die zwei Negativhälften zusammensetzen. Sophie Thun bedient sich hier der Technik des Fotogramms, das bekanntlich nicht reproduzierbar ist. So wird jeder Abzug zum Unikat. Indem sie ihre Hände oder auf anderen Aufnahmen auch ihren Oberkörper oder die Silhouette ihres ganzen Körpers als Fotogramm in die Abzüge einschreibt, bedient sich Sophie Thun einer Methode der kameralosen Erzeugung fotografischer Abbildungen, die vor ziemlich genau 100 Jahren von den Vertretern der Avantgarde, allen voran Man Ray, erstmals in die bildende Kunst eingeführt wurde. Das Fotogramm bewegte sich von Anfang an an der Schnittstelle zwischen Malerei und Fotografie. In beiden Medien stellt die Einmaligkeit des erzeugten Bildes ein zentrales Charakteristikum dar.

Mit »After Hours« reiht sich Sophie Thun jedoch in erster Linie in eine lange Tradition performativer weiblicher Selbstinszenierungen für die Kamera ein, zu deren Pionierinnen seit den 1970er Jahren Künstlerinnen wie Hannah Wilke, Carolee Schneemann, Lynda Benglis, Eleanor Antin, Marina Abramovi? oder auch Cindy Sherman gehörten. Stets geht es in den Arbeiten von Sophie Thun auch darum – unter feministischen Vorzeichen – Mechanismen der Konstruktion und der Repräsentation des weiblichen Körpers offen zu legen, männlich dominierte Blickregime in Frage zu stellen und aus weiblicher Perspektive neu zu definieren. »Die Menschheit ist männlich, und der Mann definiert die Frau nicht an sich, sondern in Beziehung auf sich, sie wird nicht als autonomes Wesen angesehen«, schrieb Simone de Beauvoir 1951 in ihrem Werk »Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau«. Seitdem ist zwar viel geschehen, dennoch haben sich tradierte Rollenbilder bis heute hartnäckig in bestimmten Milieus außerhalb und innerhalb des Kunstbetriebs gehalten oder drohen sogar, sich erneut zu verfestigen.

Nicole Büsing / Heiko Klaas