Artist Ausgabe Nr. 135
Portraits
Margaret Raspé | Hassan Sheidaei | Nick Theobald | Mariana VassilevaPage
Clemencia LabinEssay
Raimar StangePortrait
Will they be friends one day?, 2011, one rusty and one golden nail, 10 x 20 cm
Textauszug
Mariana VassilevaSpätestens seit dem Aufkommen der Konzeptkunst in der Nachfolge von Marcel Duchamp besteht beim Publikum Einigkeit über die Auslegungsbedürftigkeit der modernen Kunst. Bei ihrer Vermittlung feiert die Hermeneutik tagtäglich aufs Neue Feste. In jedem Katalog und in jeder Fachzeitschrift wird über die Kunst mehr oder weniger kompetent geschrieben. Und bei jeder Eröffnung einer Kunstausstellung aus mehr oder weniger berufenem Munde über sie gesprochen. Trotz oder vielleicht gerade wegen des Klassikers von Umberto Eco, »Das offene Kunstwerk«, aus den 1970er Jahren, der die Polyvalenz und Mehrdeutigkeit der modernen Kunst rühmt. Und trotz des Anratens von Bertolt Brecht, vor der Kunst solle jeder zu seinem eigenen Columbus werden. Das Publikum lässt nicht davon ab, mit der Präsentation eines Kunstwerks zugleich auch dessen Auslegung zu erwarten.
Während viele Kunstwerke der Moderne sich durch ihren enigmatischen Charakter und ihre Erklärungsbedürftigkeit auszeichnen, gibt es andere, nicht weniger komplex, die von großer Klarheit und Eindeutigkeit sind. Als folgten sie in ihrer Machart dem »Clare et distincte«-Ideal von René Descartes, die der Denker für jede Form von philosophischer Einlassung forderte, natürlich auch von sich selbst. Zu ihnen gehören die Werke von Mariana Vassileva, die das Künstlerhaus Göttingen vor Kurzem in einer großen Ausstellung präsentiert hat. Die 1964 in Bulgarien geborene Künstlerin hat in Sofia und an der UdK in Berlin Bildende Kunst studiert und im Rahmen von Residencies, Stipendien und Einladungen ihre multimedialen Arbeiten weltweit gezeigt. Was sie alle eint, ob Vassileva nun zeichnet, fotografiert, filmt, malt oder Skulpturen und Installationen fertigt, ist ihr konzeptueller Ansatz. Und was sie auszeichnet ist ihre überwältigende Evidenz, die im Grunde jede Dolmetscher- oder Übersetzertätigkeit weitgehend überflüssig macht.
In welcher Weise kann Gleichzeitigkeit bzw. gleichzeitig sich Ereignendes brutal sein? Genau mit dieser Frage konfrontiert uns das Künstlerinnen-Statement. Und wirft uns dabei zurück auf eigene Erfahrungen, positive wie negative, zu denen wir durch ihren Satz geführt werden. Indem wir ihn mit persönlicher Biografie, Fantasie- und Imaginationskraft in unser Leben holen, werden wir zu Mitautorinnen und Mitautoren der Künstlerin. Das wiederholt sich in mehr oder weniger ähnlicher Weise in der Begegnung mit allen Werken von Vassileva und macht die Begegnung mit ihnen so reizvoll und interessant.
Die brutale Gleichzeitigkeit eines Ungleichzeitigen und Ungleichen, indes mit der Aussicht auf einen glücklichen Ausgang, charakterisiert auch Mariana Vassilevas Arbeit, die sich im Eingang derAusstellung an der Wand gegenüber befand und gleichfalls als Abbildung in der Einladung. Wieder ein lakonisches Werk von großer Wirkkraft. Wir sehen zwei Nägel, die unterschiedlicher nicht sein könnten, der eine krumm, alt und rostig, der andere stolz, gerade und golden. Darunter in der Handschrift der Künstlerin »Will they be friends one day?« Leicht erkennen wir darin ein ebenso persönliches wie kollektives Gleichnis. Zwei Menschen, unterschieden durch allerlei Gaben und Talente, gilt es zusammenzubringen. Oder deutlich differente soziale Klassen miteinander zu befreunden und zu befrieden. Nicht einfach! Der Niedersachse Wilhelm Busch, auch er ein großer Künstler und Philosoph, mag einem dabei einfallen mit einem Zweizeiler aus einer seiner Bildgeschichten: »Der eine fährt Mist der andere spazieren; das kann ja zu nichts Gutem führen.« Oder auch Karl Marx, der große Analytiker dualer Gesellschaftsverhältnisse. Vassilevas Blick auf einen solchen Zustand krasser Klassenunterschiede ist optimistischer, auch wenn dieser Optimismus sich lediglich als zarte Frage artikuliert: »Könnten sie nicht eines Tages zu Freunden werden?« Wobei sich mit ihr in diskreter Weise auch ein sanfter Appell an uns richtet, die Dinge nicht zu lassen, wie sie sind, sondern zum Besseren zu wenden.
Nicht anders im Hauptraum der Ausstellung. An der Wand hing »The Big Puddle«, eine Weltkarte aus 2013. Mariana Vassileva hat sie gezeichnet, dann in Ton geformt, mit Wasser gefüllt und am Ende fotografiert. Sie ist weder korrekt in ihren Dimensionen, noch leuchtet sie in den gewohnten Farben von Himmel, Meer und Erde oder Stadt, Land und Fluss. Die subjektive Weltaneignung der Künstlerin ist ebenso düster wie dystopisch, gleichgültig auf welchen Erdteil wir hier schauen. Zugleich intoniert sie aber auch eine ästhetisch höchst reizvolle Sinfonie aus Grautönen. Gleich neben ihr befand sich die Wandskulptur »Just a Game« (2010). Eine großformatige Hand in unschuldigem Weiß wächst aus der Wand und formt dabei ein Victory-Zeichen. Ebenso erinnert die Haltung von ihrem Zeige- und Mittelfinger an eine Zwille. Unwillkürlich denkt man an den Kampf zwischen David und Goliath, wobei ihre in Blei getauchten Fingerspitzen an Patronen erinnern. Der Sieg, der hier symbolisch angezeigt wird, ist ganz offensichtlich mit Waffengewalt erkauft. Dass es indes auch ganz andere Siege im Leben zu feiern gibt, darauf verweist der erste Eindruck der weißen Hand.
In unterschiedlichen Rollen treten Menschen uns auch in den sehenswerten Videofilmen von Mariana Vassileva entgegen. Eine Reihe von ihnen wurde in der Ausstellung gezeigt. Oft sind sie nur wenige Minuten lang, und worum es ihnen geht, sei hier in stenogrammartiger Kürze skizziert. »Rainbow« (2011) ist ein herrlich respektloser Film, der zeigt, wie vier Heilige aus Stein unter den Klängen eines sakralen Cantus einem allzu menschlichen Bedürfnis nachgeben, wobei sich das Erhabene und das Triviale gelingend miteinander mischen. »The Milkmaid« (2006) setzt in berührender Weise ein berühmtes Bild von Vermeer in Bewegung. In »Mirror Light« (2005-2005) nutzt die Künstlerin einen Spiegel und das Licht der Sonne, um mit Menschen zu kommunizieren, deren unterschiedlichen Reaktionen sie mit der Kamera festgehalten hat. In »Reflexion« (2006) dagegen sind es verschiedene Protagonisten, die Lichtreflexe erzeugen und eine Liegewiese in eine Sternenlandschaft verwandeln. »Traffic Police« (2008) zeigt zwei Polizisten in Mexico City als Dirigenten des fließenden Verkehrs, wobei vor allem einer von ihnen zu virtuoser Form aufläuft.
Einen Sonderstatus unter den Kurzfilmen nimmt »Robyn« (2020) ein. Weil er einerseits wie all die anderen Filme für sich allein stehen kann, andererseits aber auch ein Kapitel in einem Langfilm ist, an dem Mariana Vassileva seit einigen Jahren arbeitet. Er trägt ebenso autobiografische wie fiktionale Züge, schaut in die Vergangenheit wie in die Zukunft und spielt in zwei Ländern und Kulturen, Deutschland und Bulgarien. Der Ausgangspunkt von »Robyn« ist die zeitgenössische Digitalisierung unserer Gesellschaft, die immer mehr von den Algorithmen künstlicher Intelligenz und den Prothesen der Robotik bestimmt wird. Was die digitalen Helfer bisher nicht können, Emotionen und Gefühle entwickeln, das können sie bereits in Mariana Vassilevas Film. Einerseits ist das ein Ziel, aufs Innigste zu wünschen, wie es in Shakespeares »Hamlet« heißt, andererseits aber auch eine Schreckensvorstellung ohne Ende. Der dialektisch denkenden Künstlerin ist das sehr bewusst. Weil sie aber zugleich eine unverbesserliche Romantikerin und eine überzeugte Optimistin ist, glaubt sie fest daran, dass sich die Dinge am Ende für uns zum Besseren wenden werden. In dieser Hoffnung schafft sie auch Kunst. Als Mut-Macherin! Wir können nichts Besseres tun, als uns darin von ihr anstecken zu lassen.
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