Artist Ausgabe Nr. 51
Portraits
Beate Gütschow | Bernhard Martin | Jeppe Hein | Markus Selg | Clay Ketter | Sophie CalleInterview
Christoph KellerPage
Dieter FroelichPolemik
Thomas WulffenKünstlerbeilage
Andreas Karl SchulzePortrait
Ausstellungsansicht: Galerie Christian Nagel, Berlin (23.3. bis 4.5.2002), Courtesy Galerie Christian Nagel, Berlin, Foto: Ludger Paffrath
Textauszug
Markus SelgIn Markus Selgs gleichnamiger Einzelausstellung »Nur Mut« (2002) in der Berliner Dependance der Galerie Christian Nagel, ist die zentrale Skulptur eine nach oben greifende Hand, die aus gerollten Bastmatten zusammengesetzt, auf einem Podest zwischen zwei Balken thront. Wie Keile scheinen die Balken durch das Fenster in den Boden gerammt und finden ihre Fortsetzung in der Realität der Außenwelt auf der Straßenseite durch zwei angeklebte Holzstücke auf der Fensterscheibe. Doch das Sicherheitsglas der Galerie bewirkt einen merkwürdigen Effekt: die Fortführung der Balken wird abrupt unterbrochen, der Hohlraum zwischen den Doppelglasfenstern wird sichtbar und betont die Grenze zwischen Innen- und Außenraum, zwischen Inszenierung und Realität. Die eingezwängte,wie um Hilfe ausgestreckte Hand rekurriert auf eine leicht lesbare, expressionistische Symbolsprache, die Unterdrückung suggeriert, das biegsame, (hand-)geflochtene Material verweigert sich aber einer eindeutigen Lesart, wie auch Form und Kontext der Bastskulptur ambivalent sind. Die Hand verweist eher auf die Fragilität des Hilfe Suchenden, auf das Individuum, das nur im Verbund mit anderen die eigene Zukunft zum Besseren wenden und neu gestalten kann: »Nutzt Eur massenhaft Talente. Keine Angst vor der Polente«.
Selg produziert eine kryptische, dabei romantische und sehnsuchtsvolle Projektion einer eigens geschaffenen Realität, die einen starken Drang nach Idealen und Zielen, nach mehr individueller Identität Ausdruck verleiht, letztlich einem Ziel, für das es gemeinsam einzutreten lohnt. Dabei erscheint es ihm nebensächlich, die Ziele und deren Umsetzung, wie es allen besser gehen soll, konkret zu benennen. Diese Ambivalenz weist auf eine gefährliche Tendenz in unserer Gesellschaft hin, auf ein ideologisches Vakuum und einen Mangel an Visionen, wie eine bessere Zukunft aussehen könnte. Demzufolge ist Selgs romantischer Schwanengesang auch interpretierbar als ein Abschied von der Idee der fundamentalen Veränderung, vom Befreiungsschlag der Revolution, ihrer Helden und dessen quasi-religiösem Abbild. Seine disparaten Bildwelten bestechen durch ihre Präsenz und Direktheit, und es sind diese Qualitäten, die Markus Selgs künstlerisches Anliegen in all seiner Rätselhaftigkeit so verbindlich erscheinen lassen, daß wir uns dem kaum entziehen können. Es bleibt die Frage: Sind wir so zufrieden, so vollständig, daß wir das Risiko einer Veränderung und vielleicht Verbesserung nicht mehr einzugehen bereit sind?
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