vergriffen

Artist Ausgabe Nr. 102

Portraits

Nadira Husain | Thomas Baldischwyler | Elizabeth Price | Reinhold Budde | Berlinde de Bruyckere

Interview

Esther Schipper

Page

Matthias Ruthenberg

Portrait

We Know, 2014, Wandmalerei, Dimensionen variabel, Installationsansicht JULIA STOSCHEK COLLECTION, Courtesy of the artist, Foto: Simon Vogel

Textauszug

Elizabeth Price
WE KNOW«, in wuchtigen, schwarzen Buchstaben steht es auf einer Wand im Vorraum der Schau. Wer ist »Wir«? Ist es tatsächlich ein Kollektiv oder das etwas großspurig-verschämte »Wir« wissenschaftlicher Publikationen? Und welches Wissen könnte gemeint sein? Divers sind die Quellen auf die Price zugreift und die sie unter dem Oberbegriff des Archivs in ihren Werken zu Wort kommen lässt oder im Bild zeigt. Es können ein architekturhistorischer Dokumentarfoto-Fundus und Fachpublikationen zu den Chorbereichen in Kirchen der englischen Gotik sein, wie auch vielfältige Zeugnisse, die in unterschiedlicher Weise mit dem Brand einer Woolworth-Filiale in Manchester im Jahre 1979 zu tun haben und sich in Aussagen unmittelbar Betroffener, journalistischen Beobachtungen und Analysen der Brandexperten differenzieren. Zudem kommen noch die bei Youtube bereitgehaltenen Musikvideovorräte ins Spiel, womit nur die tatsächlich in der Arbeit »The Woolworths Choir of 1979« versammelten Archive skizziert wären.

Einige Merkmale ziehen sich in Varianten durch alle acht seit 2006 entstandenen Videos. Besonders auffallend ist eine Art Stimme, eine Textinstanz, die, durch die Arbeiten leitend, verschiedene Stimmen in sich vereinigen kann. Meistens ist diese Stimme stumm, sie äußert sich durch Texteinblendungen für die Price jeweils eine eigene typographische Lösung entwickelt. Viererlei erreicht Price mit der Stummheit der Rede. Zunächst distanziert sie sich durch den Verzicht auf konventionelle Stimmen von cineastischen Filmformen. Weiterhin erzeugen die meist nur kurz aufscheinenden Textzeilen eine besondere Form der Betrachterkonzentration, die durch die stete Konkurrenz zwischen Wort und Bild, zwischen Lesen und Sehen noch zusätzlich unter Spannung gehalten wird. Vor allem aber verwandelt sich (zumindest temporär) diese stumme Texteinblendungsstimme in die eigene, entziffernde, übersetzende, mitlesende Stimme des Betrachters, der Betrachterin.

Mit einem Aufmerksamkeit fordernden Händeklatschen beginnt die bereits erwähnte, 2012 fertiggestellte Arbeit »The Woolworths Choir of 1979«. Nicht nur erhielt die Künstlerin für diesen Film den Turner Prize 2012, sondern sie etablierte mit ihm eine neue Form der höchst Unterschiedliches verbindenden, komplexen Erzählung. Drei klar voneinander unterscheidbare Teile, deren heterogenes Bild- und Textquellenmaterial bereits beschrieben wurde, füllen den zentralen Begriff des Chores mit diversen Bedeutungen. Zunächst wird in einer raschen Bildfolge aus altem Dokumentarmaterial und neuen Computeranimationen der Chor als Element des gotischen Kirchbaus entwickelt, aber er wird auch als imaginärer Versammlungsraum der dort beheimateten geschnitzten Figuren vorgestellt. Ebenso wird auf die Bedeutung des Chores als einer zusammen singenden oder tanzenden Gruppe verwiesen. Ein solcher Chor hat im zweiten Teil, einem durch den fließenden Zusammenschnitt diverser Musikvideos arrangierten Tanz seinen Auftritt, in den auch das »WE KNOW« eingeblendet wird. Neben dem vieldeutigen »Chorus« stiftet auch eine bei den Sängerinnen und den gotischen Figuren auftauchende merkwürdige Geste einen motivischen Zusammenhang. Diese Geste ist auch im dritten, dem Kaufhausbrand in Manchester 1979 gewidmeten Teil zu sehen.

Jens Peter Koerver