vergriffen

Artist Ausgabe Nr. 102

Portraits

Nadira Husain | Thomas Baldischwyler | Elizabeth Price | Reinhold Budde | Berlinde de Bruyckere

Interview

Esther Schipper

Page

Matthias Ruthenberg

Polemik

Textauszug

»Kunst als Kunst als Kunst?«
Das Problem aber liegt tiefer, beginnt bereits in den Kunsthochschulen und deren Lehre, denn dort wird den Studenten und Studentinnen immer noch Kunst vor allem als autonome Produktion von Werken vorgestellt. Diese (Waren)Produktion – aktivistische Kunst und ihre Tradition seit dem Dadaismus bleibt in den Hochschulen immer noch meist unberücksichtigt - stehe in historischen Kontexten, in denen man und frau sich reflektiert zu bewegen hat ... Letzteres ist selbstverständlich richtig – nur: Was dabei leider viel zu oft vergessen wird ist, dass all dies nur dann von Belang ist, wenn die in diesem Wissen autonom gemachte Kunst nicht um ihrer und ihrer Geschichte willen entsteht, also nicht selbstverliebte Kunst hervorbringt, die nicht mehr kann als wie Kunst(geschichte) auszusehen, sondern wenn es in der Kunst um etwas geht, wenn sie mehr ist als nur bloßer Ästhetizismus.

Genau hier liegt das Missverständnis, das die Autonomie der Kunst seit längerem begleitet: »Autonom« meint da nur noch, dass Kunst keinen Zwängen unterliegt und daher auch keinen Zwecken dienen darf. Was aber wenn Kunst dem Zwang unterliegt zweckfrei zu sein? Schon das avantgardistische »Bauhaus« hat da nicht mitgemacht. Oder wenn sie, quasi umgekehrt, ohne Zwängen zu unterliegen Zwecke verfolgt?! Für letzteres gibt es aktuelle Beispiele, etwa die »Terrorismuskongresse« des Niederländers Jonas Staal. Inhaltlich geht es dort u.a. um die Frage, warum die Terrorlisten in Spanien z. B. anders aussehen als in Deutschland, und die von dort anders als die in den USA. Wer nämlich ist ein Terrorist: Ein Palästinensischer Attentäter oder ein US-Soldat, der ohne UN-Mandat in den Krieg zieht? Und welche Strukturen von Macht liegen hinter solchen Definitionen? Formal hat Jonas Staal zur Untersuchung solcher Probleme die Organisationsform des Kongresses in die Kunst eingeführt – klar, dass das, auch wenn es der Form einer Performance verwandt ist, erst mal nicht nach Kunst aussieht und entsprechend rüde kritisiert wird. So anlässlich der 7. Berlin Biennale 2012, während der Jonas Staal einen Kongress abhalten konnte.

Ein weiteres Beispiel für Kunst, die Zwecke erfüllt und genau deswegen kaum wie Kunst aussieht, ist das Projekt »Immigrant Movement
International« von Tania Bruguera. Die documenta 11-Teilnehmerin hat in New York so etwas wie ein Büro eingerichtet, in dem Immigranten beraten werden, ihr juristischer Status untersucht wird und u.a. für mehr Respekt den Immigranten gegenüber eingefordert wird. 2012 machte das Projekt für einige Wochen Station in der Londoner Tate Modern. Schließlich sind da z. B. noch die Zeichnungen des Rumänen Dan Perjovschi. Klare politische Messages werden hier formuliert, dieses in einer Form, die an politische Cartoons erinnert, wenn man so will aber auch an Georg Grosz. Autonom ist Dan Perjovschi dennoch, das Feld der Kunst gibt ihm hierfür beste Voraussetzungen, Voraussetzungen, die all die nicht nutzen, die sich lediglich für Kunst und ihre Geschichte, aber scheinbar nicht für das Leben interessieren. Aber hat nicht schon der französische Fluxus-Künstler Robert Filliou so wunderbar festgestellt: »Art is what makes life more important than art«?! Robert Filliou war übrigens Mitglied der Kommunistischen Partei Frankreichs, ganz freiwillig.

Raimar Stange