Portrait

Camille Henrot, »The Pale Fox«, 2014-15, Installationsansicht Westfälischer Kunstverein, Münster, © ADAGP Camille Henrot, Courtesy Kamel Mennour, Paris und Johann König, Berlin, Foto: Thorsten Arendt, © VG Bild-Kunst, Bonn 2015

Textauszug

Camille Henrot
Der Westfälische Kunstverein in Münster zeigte »Grosse Fatigue« in diesem Frühjahr als Auftakt und eine Art Metatext der Ausstellung »The Pale Fox«, einer phantastischen Installation Henrots, die zuvor in Kopenhagen, London und Paris zu sehen war. Die Menschheitsgeschichte wird hier in Anlehnung an zwei unterschiedliche Systeme formuliert: der »Protogaea« von Gottfried Wilhelm Leibniz, dem letzten Universalgelehrten, dessen Studie zur Erdentstehung von zentralem Einfluss auf die westlichen Wissenschaften im achtzehnten Jahrhundert war. Und der Kosmologie der westafrikanischen Volksgruppe der Dogon, zu der der titelgebende »Pale Fox« gehört. Als Inkarnation der Kreativität, der Neugier und Ungeduld irrlichtert der einsame Blassfuchs durch Henrots Inszenierung. Er wird hier zum Stellvertreter der Digital Natives, die – getrieben von unstillbarem Wissensdrang – zur Expedition ins Internet aufbrechen. Ihr Licht der Erkenntnis ist der fahle Schein des leuchtenden Bildschirms.

Entlang eines Frieses aus Aluminiumregalen entwickelt sich die Narration wie ein kontinuierlicher Stream of Consciousness, eine mentale Landschaft, in der mehr als vierhundert Artefakte ihren Platz finden. Es geht los mit dem »Prinzip des Seins«, mit Straußeneiern, einem Babyfoto, einer großformatigen Papierarbeit, die an japanische Tuschezeichnungen erinnert. In der Kopenhagener Präsentation war diese Skizze anders gehängt, quasi auf dem Kopf stehend: zwei geheimnisvoll kryptische Zeichen, Kringel eher als Kalligraphie. In Münster wird durch die neue Hängung daraus die Andeutung eines »Ich«. Denn auch so ließe sich Henrots Werk lesen, als identitätsstiftender Entwicklungsroman, als Coming-of-Age-Story, in der jede Phase einer entwicklungspsychologischen Notwendigkeit gehorcht und in der, dem »Gesetz der Kontinuität« entsprechend, auf Geburt und Kindheit die Adoleszenz folgt. Die akribische Ordnung löst sich auf, entropische Kräfte scheinen von den Dingen Besitz zu ergreifen und sie zu verwirbeln wie im Chaos eines Jugendzimmers: Telefone und Monitore, Poster, Bücher, Zeitungen, Aufkleber, von denen einige die Schrecken und Fährnisse der Pubertät beschwören. »I beat Anorexia« gehört da noch zu den harmloseren Botschaften. Die dritte Wand des Ausstellungsraums ist dem »Prinzip vom hinreichenden Grund« gewidmet, dem Erwachsenenalter mit seinen Einschränkungen und Ritualen. Ikonographische Abbildungen einer medial vermittelten Welt und Relikte exotischer Reisen kulminieren im Versprechen einer »Mind-Voyage«-DVD: »Subliminal Self-Confidence Esteem«, eine Art Selbstbewusstseinstraining. Die Lebenshilfe scheint direkt zu den Bewältigungsstrategien der letzten Phase überzuleiten, die mit dem »Prinzip der Identität des Ununterscheidbaren« Alter, Auflösung und Tod, schließlich die atomare Apokalypse selbst illustrieren.

Kristina Tieke