Artist Ausgabe Nr. 104

Portraits

Renzo Martens | Trevor Paglen | Achim Bitter | La Biennale die Venezia 2015 | Nan Goldin

Interview

Daniel Marzona

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Wolfgang Michael

Portrait

Fabio Mauri, Il Muro Occidentale o del Pianto, 1993, Valigie, borse, bauli, materiale da imballaggio, tessuto e legno, 400 × 400 × 60 cm, 56th International Art Exhibition - la Biennale di Venezia, All the World’s Futures, Photo: Andrea Avezzù, Courtesy la Biennale di Venezia

Textauszug

La Biennale die Venezia 2015
Über die 56. Biennale zu berichten, ist aufgrund schierer Menge, weitläufiger räumlicher Zerstreutheit und theoretischer Multifokalität fast unmöglich. Zudem will der Chef-Kurator ausdrücklich das Publikum überfordern. Keine andere Ausstellung hat einen so hohen didaktischen Bedeutungsanspruch und ist doch so unstrukturiert, keine gibt auf einem derartig hohen Preisniveau vor, gegen den Kunstmarkt zu sein und keine will unter dem Motto »All the World’s Futures« alles über die Welt erzählen und macht zugleich den Dialog der Kunst zu einer inszenierten Metaerzählung der Werke so schwer. Das liegt tief in der Struktur: Die 87 nationalen Präsentationen gehorchen jeweils eigenen Logiken und die kuratierten Hauptausstellungen in den Giardini und dem Arsenale mit 136 Künstlern aus 53 Ländern und 159 extra angefertigten Arbeiten wollen und müssen so vielen Ansprüchen genügen, dass sie über alles reden und nichts mehr sagen.

Mit einer abschließenden Wertung zu beginnen sei entschuldigt, denn genau das tut Okwui Enwesor auch. Nach der als sehr theoretisch und erstmals wesentlich globalisiert bewerteten documenta 11 (2002) hat er letztes Jahr relativ kurzfristig und mit seiner Meinung nach viel zu wenig Geldmitteln die Leitung an der Lagune übernommen. Je einmal eine der beiden wichtigsten Kunstaustellungen der Welt zu leiten, gelang vor ihm nur der Kuratoren-Legende Harald Szeemann. Doch längst ist vom afrikanischstämmigen Okwui Envezor kein neuer Blick außerhalb des euro-amerikanischen Kunstbetriebs mehr zu erwarten. Der derzeitige Direktor des Hauses der Kunst in München inszeniert die globale Überfülle der Kunst eher als ein Trauerspiel: Der Eingang zur Hauptaussstellung ist unter der Leuchtschrift »blues blood bruise« mit schwarzen Flaggen verhängt, unter der zum Ruhme der Kunst im 19. Jahrhundert ausgemalten Kuppel findet sich eine Reihe von Filmabspannbildern, die immer wieder verkünden »The End« oder »Fine« und in der einzig möglichen Wegrichtung hustet sich Christian Boltanski das Blut aus dem Leib. Ohne Zweifel: Hier geht es um Kunst, die durch radikale Negation wirken soll. Allerdings zeigt sich schon hier, dass die radikalsten Positionen fast immer Zitate aus vergangenen Zeiten sind: Die »Ende«- Bilder samt der Mauer aus Koffern von Fabio Mauri sind aus den Neunziger Jahren. Der Freund Pier Paolo Pasolinis zitiert mit den Koffern Auschwitz, nicht aktuelle Flüchtlingskatastrophen. Und Boltanskis physischer Zusammenbruch ist von 1969.

Okwui Enwesor bietet drei sogenannte Filter für die Betrachtung an. Den »Garten der Unordnung«, Die »Epische Zeit« und die Lektüre des »Kapitals«. Doch dass die ganze Ausstellungsdauer in einer extra gebauten Bühnen-Arena immer wieder aus dem Kapital vorgelesen wird, und Karl Marx auf der Künstlerliste steht, ist nur als Geste zu verstehen, die de facto unrezipierbar und so folgenlos bleibt, dass einige Kritiker Enwezor als »Salon-Marxisten« betitelt haben (an anderem Ort wird ein Lacan-Seminar von 1975 gelesen, für wen auch immer). Jedenfalls sind im weiteren Rundgang ebenso hochgehandelte Photos von Andreas Gursky zu sehen wie Totenköpfe von Marlene Dumas, im Arsenale ebenso Macheten-Arrangements, Waffenstillleben und mächtig schweigende Instrumente wie neue Bilder von Kunstmarktstars wie Chris Ofili und Georg Baselitz oder der Katastrophen-Chic von Katharina Grosse. Natürlich werden immer wieder auch die Medien selbst hinterfragt, Statistiken werden zu Ornamenten, Bücher zu Geldhaufen und Photo-Titel zum bildlosen Text. Auch direkte Kunstmarktanalyse ist vertreten, doch die längst legendäre Arbeit von Hans Haacke dazu ist nun einmal nur auf dem Stand der 1970er Jahre. Man könnte unter der Last dieser so disparaten Kunstdinge fast zusammenbrechen: Die Installation »The End of Carrying All« von Wangechi Mutui zeigt ganz im Gegenbild zu Herkules und schon fast zu direkt, wie es endet, wenn jemand sich immer mehr in den Warenkorb aufbürdet.

Gelungen ist auch der Deutsche Pavillon. Zur »Fabrik« umgewidmet werden hier gleich in vier unterschiedlichen Varianten globale Wirtschaftsthemen behandelt. Durch den Seiteneingang wird eine neu eingezogene Zwischenebene erreicht, auf der der Fotokünstler Tobias Zielony das Schicksal von Migranten dokumentiert und an die Zeitungen der Länder zurückmeldet, aus denen sie kommen. Jasmina Metwalys und Philip Riziks Film dokumentiert und inszeniert mit freigesetzten Fabrikarbeitern Lebensbedingungen in Kairo. Auch das Dach der stets als problematisch empfundenen Architektur ist einbezogen. Olaf Nicolai hat dort für das Publikum unerreichbar eine Schattenwirtschaft etabliert: Hier bauen und erproben »unsichtbare« Migranten Bumerangs, die dann heimlich in den venezianischen Souvenirbetrieb eingeschleust werden. Highlight aber ist die Videocollage »Fabrik der Sonne« von Hito Steyerl, die im Hauptraum hinter dem zugemauerten Eingang läuft. Die deutsch-japanische Medienkünstlerin zeigt die Produktion von mehrschichtigen virtuellen Realitäten, jongliert zwischen Produktion und Dokumentation, zwischen Nachrichtenformaten und Werbeinserts, schöner neuer Welt und Hacker-Angriffen. Entspannt in Liegestühlen beobachtet man verwundert, wie Opfer von Studentenunruhen ein zweites Medienleben erhalten und Tänzer auf dem Berliner Teufelsberg im Auftrag der Deutschen Bank von Drohnen erschossen werden. Komplex verschachtelt und intelligent unterhaltsam ist dies eine der wenigen Arbeiten, die sich tatsächlich mit der Zukunft und deren Parallelwelten befasst und weniger mit den allbekannten Problemen der Vergangenheit.

Sicher gibt es viel zu entdecken auf dieser Biennale. Aber als großes Rätsel bleibt, was Okwui Enwezor mit seiner Auswahl sagen will. Dass die Welt schlecht ist? Dass das Publikum schlecht ist, weil es nie genug Zeit mitbringt? Dass die Dinge aufgehört haben zu sprechen? Dass die Kunst früher besser war? Dass alles bis zum bitteren Ende irgendwie weitergehen muss? Am Luxemburger Pavillon hängt eine Leuchtschrift: »The world is a Stage. But the Play is badly cast.« Könnte dieses alte Zitat von Oscar Wilde eine Art Resümee sein?

Hajo Schiff