Artist Ausgabe Nr. 114

Portraits

Reinhold Budde | Thomas Judisch | Candice Breitz | Korpys / Löffler

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Wiebke Siem

Edition

Thomas Judisch

Portrait

After the breakfast, 2016, Bronze, Courtesy Drawing Room, Hamburg and the artist

Textauszug

Thomas Judisch
Eine abgestellte Müslischale. Cerealien-Bröckchen schwimmen in der Milch, ein Löffel liegt obenauf. Offenbar ist hier jemand nach einem hastigen Frühstück aufgesprungen, vielleicht um ins Büro zu fahren oder die Kinder in die Schule zu bringen. Der vermeintlich gesunde, oft jedoch vollkommen überzuckerte Körner-Snack als Sinnbild für die heutige, schnelllebige Zeit. Doch diese Müslischale ist nicht aus Porzellan, und auch die Cerealien sind nicht echt. Das Ganze ist ein Kunstobjekt aus Bronze, teils poliert, teils mit Patina behaftet. Es stammt von dem Hamburger Künstler Thomas Judisch, der bekannt ist für seine ebenso augenzwinkernden wie geistreichen bildhauerischen Interventionen im Ausstellungskontext und im öffentlichen Raum. Seine Arbeiten aus der Serie »After the Breakfast« (2016) - diese umfasst auch Bronzeabgüsse diverser anderer Speisereste - lassen sich dabei als ironisch-zeitgenössische Persiflage des Denkmals früherer Epochen interpretieren. Allerdings wird hier nicht die Person selbst sichtbar, sondern ihr verborgenes Abbild als Spur täglicher Verrichtungen und profaner Hinterlassenschaften.

In vielen seiner Arbeiten bedient sich der Künstler einer Methode, die man als variierende Nachahmung bezeichnen könnte. An sich vergängliche Materialien wie etwa Müslireste, die Ausscheidungen eines Pferdes oder auch ein angebissenes Stück Pizza werden nobilitiert, indem sie in dauerhafte Materialien wie beispielsweise Bronze überführt und so in etwas materiell Stabiles übersetzt werden. Das an sich Vergängliche erfährt dadurch eine Art Ewigkeitsversprechen. Um eine Täuschung des Betrachters geht es nur vordergründig, wird doch, wie auf den zweiten Blick erkennbar und anhand der Saalschilder beziehungsweise der Angaben im Katalog eindeutig ablesbar, der unechte Charakter der Arbeiten keineswegs verschleiert.

Für die 2014/2015 entstandenen Arbeiten »Weiblicher Akt«, »Männlicher Akt« oder »Liebespaar« bat er die Personen, sich auszuziehen und Oberbekleidung und Unterwäsche spontan auf einen Haufen zu werfen. Das jeweilige Textilensemble wurde fotografiert und anschließend in Originalgröße auf PVC-Folie gedruckt. Die präzise ausgeschnittenen fotografischen Reproduktionen von Kleiderhaufen werden, flach auf dem Boden liegend, als zweidimensionale Wiedergänger der ursprünglichen Ensembles ausgestellt. Auch hier entsteht wieder so etwas wie das individuelle Porträt einer anonymen Persönlichkeit, da ein spezifischer Kleidungsstil immer auch persönliche Einstellungen, gesellschaftliche Codierungen und die Zugehörigkeit zu bestimmten Milieus zum Ausdruck bringt.

So gesehen, lassen sich auch zahlreiche Arbeiten von Thomas Judisch als Versuche, fiktive beziehungsweise andere Wahrheiten zu konstruieren und den Alltag damit zu infiltrieren oder aber vermeintliche Gewissheiten mit teils schelmenhafter Attitüde auf den Prüfstand zu stellen, interpretieren. Indem er subversiv mit der Dialektik von Original und Fälschung, Vorbild und Abbild spielt, eröffnet er dem Betrachter ganz neue Perspektiven auf eine gerade auch im Zeitalter von Virtualität und Digitalisierung immer ambivalenter werdende Wirklichkeit.

Ob Pferdeäpfel aus schwarz patinierter Bronze, eine Plastikfliegenklatsche, mal in Bronze, mal in Glas reproduziert, gewöhnliche Stubenfliegen, die als transparente Sticker täuschend echt auf Wände und Objekte geklebt werden können, eine janusköpfige, weil mit zwei Schirmen ausgestattete Baseballkappe oder eine Radierungsserie, die lediglich die mit Text bedruckten Rückseiten von Kunstpostkarten zeigt: Thomas Judisch gelingt es immer wieder, hintergründige Kommentare zum Kunstbetrieb und oft übersehenen Alltagssituationen abzugeben. Diese im Ausstellungskontext bezugsreich zu installieren, ist eine seiner weiteren Stärken.

Nicole Büsing / Heiko Klaas