Artist Ausgabe Nr. 136
Portraits
Julia Scher | Michael Rakowitz | Hannah Villiger | Mona Kuhn | Claudia WieserPortrait
Block XXX, 1993/94, 6 C-Prints auf Polaroid auf Aluminium, 254 x 377 cm, Kabinett Herzog & de Meuron, © Foundation THE ESTATE OF HANNAH VILLIGER
Textauszug
Hannah VilligerPräsenz, Unmittelbarkeit, Sinnlichkeit - das sind erste Eindrücke vor den Arbeiten von Hannah Villiger (1951-1997). Mühelos überblenden ihre Fotoblöcke die karge, weite Ausstellungsarchitektur. Sie umrunden das Publikum, lassen die großen Museumsräume schrumpfen. Tableaus von Körperteilen und Gliedmaßen konfrontieren die Betrachtenden mit irritierender Intimität. Hier setzt sich ein Körper aus, ohne dass er sich entblößt. Er lässt sich nicht ansehen, sondern blickt augenlos auf die Schaulustigen. Hingabe, Verausgabung, Verletzlichkeit, Vergänglichkeit, Erotik und Wunde, – der Leib wird in Dialogen und Choreographien zum Ort, an dem Begehren und gelebtes Leben zur Sprache kommen und ihre Spuren hinterlassen haben. Die Objektrolle des Körpers ist exponiert. Aber gerade dadurch wird ein Weg zur Aneignung durch sein Subjekt geebnet. Zusammenspiel und Wechselspiel von Verletzlichkeit und Aggressivität werden am Körper, in einem komplexen Verhältnis von Inhalt, Form und Material, verhandelt.
So sehr die Formate auch Distanz für die Betrachtung fordern, so nah rücken sie an das Auge der Betrachtenden – oder besser, ihnen auf den Leib. Die Bilder wirken skulptural, weil die Betrachtenden unmittelbar an physische Impulse anschließen. Der Körper wird zum Resonanzraum für das befragende Ich und das betrachtende Wir. Das Kunstwerk vollendet sich, wenn der Körper mit dem Publikum konfrontiert wird, in den ausgelösten physischen, psychischen und gedanklichen Reaktionen. Die fragmentierten Körper sind zu formalen Einheiten arrangiert. Doch die Nachbarschaft der Einzelbilder fördert weiter Spannungen. Unter einer ästhetischen Geschlossenheit wirken Brüche und Reibungen einer über Körperlichkeit vermittelten Lebenswirklichkeit.
In diesem Jahr rückt das Werk Hannah Villigers gleich mit zwei Ausstellungen wieder in die Öffentlichkeit. Da ist eine Schau im schweizerischen Susch und die zweite im Neuen Museum Weserburg in Bremen. Die jüngsten Präsentationen mögen für manche eine Neuentdeckung bedeuten. Sie könnten Anlass für eine differenzierte Einordnung ihrer Position in den aktuelleren feministischen Diskurs sein.
So wie das Selbstverständnis der Künstlerin lautet »ich bin eine Bildhauerin, ich bin die Skulptur«, besetzt sie Subjekt- und Objektrolle zugleich. Über die Befragung eigener Dispositionen und fremder Sehweisen kommt sie in ein selbstbestimmtes und selbstbewusstes Gestalten. »Ich fotografiere um meinen eigenen Körper herum, ich kann verformen, Ausschnitte wählen, es ist, als ob ich eine Figur modellieren würde.« Ihr Ziel ist »nicht ein Abbild des Gegebenen, sondern ein autonomes Werk«.
Hannah Villigers Fotoarbeiten sind keine diskursive Verhandlungsmasse, sie besitzen einen große existentielle Dringlichkeit aufgrund ihrer unmittelbaren Herkunft aus Erleben und Erfahren. Die Verbindung des vermeintlich dokumentierenden flächigen Mediums Fotografie und des Körper bildenden und Körperlichkeit thematisierenden Mediums Skulptur schaffen eine spezifische Einheit von Medium und Motiv. Der Blick geht über eine tiefe Oberfläche ins Bild, das Bild rückt weit in den Raum vor und versetzt die Betrachtenden in eine optisch-leibliche Wahrnehmung.
Das reduzierte fotografische Verfahren und der eingegrenzte Themenkreis führen über Transformation und Collage zu einem komplexem Ergebnis mit einem weiten und offenen Fragehorizont. Wie interagieren Innen und Außen? Wie gelingt es, sich dem eigenen Körper zu nähern, ihn zu erfassen, ihn als Einheit zu verstehen? Bei Hannah Villiger ist der Körper keine politische und damit abstrahierte Kategorie entlang des Machtbegriffs, sondern eine sinnlich greifbare, aber wandelbare, flüchtige, vielstimmige Topographie, hinter der ein rastloses und uferloses Selbst-Bewusstsein steht. Auf den Körper lässt sich als Seismograph vertrauen, aber auch als Instrument zum In-der-Welt-Sein? Nichts ist schwerer zu greifen und zu verstehen als das inkorporierte, verkörperte und verkörpernde Selbst zwischen Begehren und Erfüllung. (Weserburg Museum für moderne Kunst: »Hannah Villiger. Ich bin die Skulptur«, bis zum 8. Oktober 2023)
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