Artist Ausgabe Nr. 136
Portraits
Julia Scher | Michael Rakowitz | Hannah Villiger | Mona Kuhn | Claudia WieserPortrait
Irene and Thomas, 2001, from the series »Photographs«, Courtesy Mona Kuhn and Steidl Verlag
Textauszug
Mona KuhnMona Kuhn fand zur Fotografie, als sie ihren 12ten Geburtstag feierte. An dem Tag bekam sie von Ihren Eltern eine Pocketkamera, eine Kodak Instamatic, geschenkt, die sie sofort auf ihre Gäste richtete, um sie aufzunehmen. Mit diesem Geschenk hatte die Tochter eines nach Brasilien ausgewanderten deutschen Ingenieurs und seiner Frau schon sehr früh ihre berufliche Bestimmung gefunden. Damals fing Kuhn, 1969 in Sao Paulo geboren, an zu fotografieren und hat seitdem nicht mehr damit aufgehört. Auch ihr Thema fand sie bereits an jenem Tag. Bis heute kann sie sich nichts Herausforderndes und Lohnenderes vorstellen, als Menschen zu fotografieren und ihnen in dieser Weise auf die Spur zu kommen. Sie zu erkennen, heißt für sie nichts anderes, als sich selbst zu erkennen. Der Erkenntnisprozess, den sie in ihrer künstlerischen Arbeit als Fotografin anstrebt, ist nicht weniger als existenziell. Für ihn greift sie seit längerem auf ein uraltes Genre der Kunst und der Fotografie zurück: den Akt. Menschen, nackt zu fotografieren, bedeutet für Kuhn, dass sie dabei alle Prothesen abgeworfen haben, nach denen sie üblicherweise greifen, um ein bestimmtes Bild von sich zu entwerfen, hinter dem sie sich nicht selten auch verstecken.
Die Protagonistinnen und Protagonisten von Kuhns Bildern sind keine Modelle im herkömmlichen Sinne. Sie werden nicht gecastet, sondern von ihr um ihre Mitwirkung an ihren Projekten gebeten. Und sie werden dafür nicht in Geld bezahlt, sondern in Bildern. Veröffentlicht werden Aufnahmen nur mit dem Einverständnis der Fotografierten. Und wenn Kai und Luzia, zwei weibliche Modelle in »Photographs«, das Zustandekommen ihres Porträts in dem Buch als die Zusammenarbeit dreier Künstlerinnen beschreiben, so demonstriert das eindringlich, wie selbstbestimmt wir uns den Prozess einer solchen Bildwerdung seitens der Modelle vorzustellen haben.
Die Schönheit von Kuhns Bildern wohnt nicht allein in den Gedanken, die sich in ihnen ausdrücken, sondern vor allem und in erster Linie in ihrer Form. Kuhn fotografiert in »Photographs«, aber auch in den »Bordeaux Series«, mit einer Hasselblad, die bekannt ist für das quadratische Format ihrer Negative. Üblicherweise komponieren Fotografinnen und Fotografen ihre Bilder, was die tiefenschärfe angeht, vom Zentrum aus. Dort liegt, weil die Aufnahmen nach den Seiten hin unschärfer werden, regelmäßig der Fokus ihres visuellen Interesses und des Geschehens. Kuhn arbeitet dagegen gerne von den Rändern aus, was den Fokus ihrer Betrachtung wie ihrer Aufnahmen verschiebt. Besonders prominent in »Philipp’s B-day« (2002), wo der Blumenstrauß als Symbol des Geburtstags am unteren Bildrand scharf hervortritt, während die Protagonistinnen und Protagonisten in Unschärfe verschwimmen. Immer wieder tauchen an Kuhns Bildrändern, sich prominent in den Vordergrund schiebend, auch Hände auf wie in »Dirk« (1998), »Gravity« (1998), »Kai« (2000) und »The Visit« (2000). Als Greiforgan des Menschen ist die Hand dazu prädestiniert, um Hilfe zu bitten und Hilfe zu gewähren. Für Kunstschaffende ist sie darüber hinaus bevorzugtes Organ des Hervorbringens und Gestaltens. Kuhn komponiert ihre Bilder souverän, wobei ihre Vergrößerungen immer das gesamte Negativ zeigen. Sie folgt dabei einer Forderung von Henri Cartier-Bresson, der strikt gegen nachträgliches Zuschneiden des Negativs war. Aber nicht nur die geschickte Dramaturgie von Schärfe und Unschärfe bestimmt die Physiognomie von Kuhns Bildern. Auch der strategisch eingesetzte Zoom wie in dem wunderbaren Porträt »Taken« (2001), in dem die Protagonistin mit geschlossenen Augen und leicht geöffnetem Mund wie ein realistisches Traumbild erscheint. Und natürlich ist ebenso charakteristisch für Kuhns Fotografie das austarierte Spiel mit Licht und Schatten, wie es beispielhaft in »Claire Obscure« (2001) vorgeführt wird, wo ein Streifen hellen Lichts Schulter, Hand und Arm des im Schatten ruhenden Aktes konturiert.
Anders als die Spotlights der »Photographs« präsentiert die »Bordeaux Series« bereits so etwas wie eine zusammenhängende Erzählung. Dieser narrative Charakter wird noch stärker in Kuhns fotografischem Künstlerbuch »She Disappeared into Complete Silence« (2017) prononciert. Aber nicht nur die Narration tritt dort stärker hervor, Kuhn nimmt sich auch größere Freiheiten im Umgang mit ihrem Medium. Das strenge quadratische Bildformat der analogen Hasselblad wird abgelöst von dem variablen rektangulären Bildformat ihrer digitalen Version. Doch auch jetzt bestimmt der Wechsel von Farbe und Schwarzweiß die Dramaturgie der Aufnahmen. Der Titel des Werks von Kuhn wurde inspiriert vom Titel eines Werks von Louise Bourgeois, in dem es heißt: »He Disappeared into Complete Silence«. Während Bourgeois damit auf die Überwindung der autoritären Vaterfigur in ihrer Kunst zielte, geht es Kuhn in ihren Bildern um die Auflösung einer herkömmlichen Wirklichkeitsrepräsentation.
Was sich, knapp zusammengefasst, möglicherweise wie eine etwas seltsame Konstruktion liest, präsentiert sich als ein magisches Werk. Von Mona Kuhn als Ensemble von Fakten und Fiktion harmonisch zusammengefügt, als großartiges Porträt eines auch heute noch architektonisch überzeugenden Hauses und als wunderbar ästhetisches Zusammenspiel von Natur und Kultur.
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