vergriffen

Artist Ausgabe Nr. 65

Portraits

Michael Sailstorfer | Simon Dybbroe Moller | Monica Bonvicini | Gregory Crewdson | sarah lucas

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Werner Reiterer

Künstlerbeilage

Jan Timme

Interview

Stephan Schmidt-Wulffen, Rektor der Akademie der bildenden Künste Wien, Foto: Roland Icking

Textauszug

Stephan Schmidt-Wulffen
J.K.:
In Deutschland sind derzeit an den Akademien für Bildende Künste, Design und Medien mehr als 30.000 Studenten immatrikuliert. Einerseits kann der Großteil der Absolventen von der Kunst nicht leben. Andererseits wollen nach wie vor viele Kunst studieren. Was macht die Faszination dieses Studiums aus?

S.S.-W.:
Vor allem Missverständ-nisse! Da ist die Vorstellung, in der Kunst könne man sich noch »verwirklichen«. Hier könne man seinen eigenen Passionen frönen, von keinen gesellschaftlichen Zwängen eingeengt. Und dafür soll man noch jede Menge Geld und öffentliche Anerkennung bekommen. Die meisten Kunsthochschulen organisieren ihren Unterricht so, dass die Enttäuschung bis zum Diplom hinausgezögert wird. Die wirkliche Faszination des Kunststudiums aber liegt wohl anderswo: nämlich darin, eine Wissensproduktion zu erlernen, die sich von der in den Wissenschaften signifikant unterscheidet; darin, sich Kriterien einer kritischen Kulturproduktion anzueignen.

J.K.:
Ist diese Konzentration auf die Sammlung ein Schritt zurück, verliert ein Museum durch den Wegfall von ständigen Wechselausstellun-gen an Attraktivität oder ist es die einzige Chance der Museen, sich als Museum zu erhalten und gegen Eventausstellungen durchzusetzen?

S.S.-W.:
Zunächst - wir folgen mit dieser Studienstruktur einer europäischen Entwicklung, dem sogenannten Bologna-Prozess. Diejenigen, die meinen, sie könnten hier für die Kunstuniversitäten einen Sonderstatus erzwingen, werden Probleme kriegen: mit ihren Politikern (die auch ihre Geldgeber sind), mit den anderen Universitäten, mit dem internationalen Standard. Mit Verschulung hat das nichts zu tun: Cal Arts, noch immer eine der renommiertesten Kunstuniversitäten der USA, verlangt von seinen Kunststudenten im Bachelor ein geringeres Lernpensum als wir in unserem jetzigen Diplomstudiengang. Der heimliche Skandal der alten Kunstakademien liegt ja darin, dass niemand sagen will, was hier unterrichtet wird. Jetzt müssen wir sagen, was ein Kunststudent oder eine Kunststudentin nach drei Jahren Studium wissen und können soll, und dann müssen wir die Studienangebote schaffen, in denen man sich dieses Können aneignen soll. Wir sind der Überzeugung, dass heute nicht jeder einzelne die Kunst neu erfinden muss. Kunst setzt nicht nur ein intuitives, sondern - wie an den anderen Universitäten - auch ein kumulatives Wissen voraus. Schließlich geht es mitnichten um eine Annäherung der Kunst an die Wissenschaft. Es geht um Kunst als eine spezifische Handlungs- und Erkenntnisform, die sich von der Wissenschaft signifikant unterscheidet. Die dürfen wir aber nicht einem Künstlertypus vorbehalten, denn diese Erkenntnisform kann sich in den unterschiedlichsten Praxisfeldern manifestieren, vielleicht sogar in Bereichen, die mit der »Kunst« im herkömmlichen Sinn nichts zu tun haben.

Joachim Kreibohm