vergriffen
Artist Ausgabe Nr. 90
Portraits
Annette Wehrmann | Aernout Mik | Dirk Stewen | »Vor dem Gesetz...« | Marcel DzamaPortrait
Pawel Althamer, Bródno People, 2010, Verschiedene Materialien, 252 x 600 x 165 cm, Sammlung Goetz, Foto: Achim Kukulies, © Pawel Althamer, Courtesy Sammlung Goetz
Textauszug
»Vor dem Gesetz...«Dies ist ein Aufbruch. Angeführt von einem skelettierten Roboter-Wesen macht sich ein Trupp phantastischer Gestalten auf den Weg. Keine Frage, sie haben ein klares Ziel vor Augen. Es liegt irgendwo in Utopia, und es verspricht ein besseres Leben.
Pawel Althamers »Bródno People« schreiten mutig voran in dieser Ausstellung, die es ernst meint mit der gesellschaftlichen Verantwortung der Kunst. Wie schon bei anderen Gelegenheiten gestaltete Althamer die lebensgroße Figurengruppe in Zusammenarbeit mit Freunden und Nachbarn aus seinem Wohnort Bródno, einer typischen Plattenbausiedlung im Norden Warschaus. Die Entdeckung der eigenen Kreativität als gemeinschaftlicher Prozess – möglicherweise ein probateres Mittel gegen Ausgrenzung als eine noch so gut gemeinte Gesetzgebung. Das Vorbild, Rodins »Bürger von Calais«, jene künstlerische Apotheose eines beispiellosen Opfergangs von sechs Bürgern zur Rettung ihrer Stadt, könnte kaum höher gehängt sein. Aber die Neuinterpretation aus ausgestopften und silbern besprühten Kleidungsstücken, Schrottteilen, Modelliermasse und Plastikfolie braucht den Vergleich nicht zu scheuen. Das lässt sich auf Sichtweite im Nachbarraum anhand von acht Farbfotografien aus Candida Höfers Zyklus »Zwölf« zur Repräsentationsgeschichte der Rodin´schen Abgüsse leicht nachprüfen. Ramponiert, verbeult und zusammengeflickt wie sie sind, strahlen die »Bródno People« erstaunlicherweise dieselbe Würde aus wie ihre in Bronze verewigten Leidensgenossen aus dem späten 19. Jahrhundert.
Die beiden Beiträge gehören zu den 25 Positionen einer politisch reflektierten Ausstellung, mit der sich Kasper König nach zwölfjähriger Amtszeit als Direktor des Museum Ludwig verabschiedet. Dabei geht es ihm wie schon bei seinen früheren, großen programmatischen Ausstellungen um eine Diagnostik der Gegenwart. Aber welche Fragen bewegen die Kunst und die Menschen heute, rund zwanzig Jahre nach »Der zerbrochene Spiegel« (1993), rund dreißig Jahre nach »Westkunst« (1981) und »Von hier aus« (1984) Kasper König und sein Co-Kurator Thomas D. Trummer konstatieren eine Rückbesinnung auf Grundlegendes, Existenzielles, auf drängende Fragen nach der eigenen Verantwortlichkeit. Der Ausstellungstitel »Vor dem Gesetz« bezieht sich auf Kafkas Parabel von der lebenslangen, vergeblichen Hoffnung auf Einlass durch die Pforte des Gesetzes für denjenigen, der eben auf der anderen Seite steht. Mit Kafka im Gepäck spannt der Titel den Bogen von einer wachsenden Kluft zwischen den privilegierten und den rechtlosen Bewohnern dieses Planeten bis zu den Errungenschaften einer Gesetzgebung, die die Unantastbarkeit der menschlichen Würde garantiert. König leistet sich eine unpopuläre, völlig unironische und unzweideutige Ernsthaftigkeit. Und macht auch vor der eigenen Zunft nicht Halt, indem er die Fragwürdigkeit eines verbindlichen Kanons der Moderne offenlegt. Denn wie Bazon Brock in einem Vortrag zur Ausstellung anmerkte, lässt sich Kafkas Parabel in diesem Zusammenhang durchaus auch als Metapher für das Museum selbst lesen, das über die Aufnahme in seinen Hoheitsbereich Künstler nobilitiert bzw. durch Ausschluss ebenso kategorisch fernhält von Ruhm, Preis und Ehr. Der Spalt zwischen drinnen und draußen geht durch alle Instanzen.
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