Artist Ausgabe Nr. 127
Portraits
Norman Sandler | Calla Henkel & Max Pitegoff | Moyra Davey | Teresa BurgaPortrait
ohne Titel, aus: Deko und Diskurs, 2019/ 2020, Bleistift / Bristolkarton, 29,7 x 21 cm, Foto: Tobias Hübel
Textauszug
Norman SandlerKunstpreisausschreibungen gehören zum Alltagslesestoff von Künstlerinnen und Künstlern. Norman Sandler stößt auf den Förderpreis der Arthur Boskamp-Stiftung. Die Lektüre wirkt nachhaltig. Der PreisJahrgang 2019/20 steht unter dem Motto »Care«. Der Ausschreibungstext entfaltet den Begriff beziehungsreich in Sorge um das Soziale (»Who cares?«). Das Schreiben adressiert »Kunst, die sich um das Kümmern kümmert«. Gesucht werden »kritisch-künstlerische Positionen«, die an der »Schnittstelle von sozialer Reproduktion und sozialer Gerechtigkeit angesiedelt sind«, die »die gegenwärtigen Ungleichheiten von Gender und Race in der Care-Arbeit herausfordern und alternative Zukunftsvisionen entwerfen«, kurz gesagt: »socially engaged art«.
Für gewöhnlich bleiben derlei Texte in den Hinterzimmern des Kunstbetriebs. Die Ausschreibung der Boskamp-Stiftung schafft es in den Ausstellungsraum der Städtischen Galerie Bremen, weil Sandler die Kunstpreisausschreibung in Kunst verwandelt. Dort hängt nun der Text neben anderen Blättern gleichen Formats, gerahmt und exponiert und nicht gleich in seinem ästhetischen Status identifizierbar. Ausdrucke als Readymades, Kontextverschiebung, Deklaration statt Formgebung? Neben dem Ausschreibungstext hängt eine Mail von Sandler, die seinen eingereichten Beitrag begleitet: eine Erklärung für die verspätete Abgabe aufgrund zeitraubender Auseinandersetzung mit dem Thema. Mit dem Zusatz, dass die Arbeit von so grundlegender Bedeutung für das Schaffen des Künstlers sei, dass sie noch nach Ablauf der Frist eingereicht werden müsse. Diese Vorlage zu einem inhaltlichen Dialog bleibt ungenutzt. Ein drittes Blatt in der Ausstellung dokumentiert die Entgegnung der Kuratorin. Knapp und formell verweist sie auf den Zeitverzug als Ausschlusskriterium und wünscht alles Gute.
Spätestens nach der Lektüre des zweiten Blattes geben sich die Exponate in ihrer medialen Eigenschaft zu erkennen: Es handelt sich um Bleistiftzeichnungen, mit aufmerksamem Blick an der pulvrigen Textur und den unregelmäßigen Konturen der Buchstaben erschließbar. Kein Readymade also, sondern eine Transformation des Textes in eine Zeichnung. Worte werden grafisches Geschehen. Der Künstler antwortet auf das Schreiben mit einem Bild, ein Statement über seine Kernkompetenz, das angesichts des Stiftungsaufrufs zum sozialen Engagement um so mehr Bedeutung erlangt. Auf dem Weg der manuellen Kopie mit Bleistift und Papier stellt sich Sandler in eine künstlerische Überlieferung, deren Relevanz für die Gegenwart überprüft werden will. Was bedeutet heute die Nachzeichnung des Textes? Für den Künstler ist es ein mühevoller Prozess,in dem er sich weniger um sich selbst kümmert, sondern zunehmend um die Kunst sorgt.
Dabei will Sandler, skeptisch gegenüber dem auf der Kunst lastenden Innovationszwang, keine neuen Bilder in die Welt setzen. Vielmehr bringt er bestehende zu neuer Sichtbarkeit. Langsam, langwierig, durchdenkend, durchdacht. Zeichnerisch durchlebt er Beiläufiges, Randständiges, Flüchtiges aus der Alltagswirklichkeit. Er verflüssigt Verkrustungen zu Erfahrungswirklichkeiten. Einen Hartz IV-Antragsbogen räumt der Künstler von Text leer und monumentalisiert die minimalistische Zeichnung zu einem Wandbild. Die grafischen Momente des Antrags - damit die Kernelemente des Zeichnerischen - erscheinen isoliert: Kreise für das Ankreuzen, Linien und Spalten für Einordnungen, Einkästelungen, Auflistungen, Schubladen. Antragsteller sind gezwungen, sich in ein Raster zu stellen, hinter ein Gitter zu platzieren, auf einem abgesteckten Feld zu positionieren.
Sandler porträtiert Realien des Daseinsvollzugs. In seiner Durcharbeitung der oberflächlichen Erscheinung und des konventionellen Gebrauchs öffnet er den Blick auf Hintergründe und Zusammenhänge der Lebenswirklichkeit. Er behandelt ein Stück Papier wie einen archäologischen Fund. Die Zeichnung ist sein Modus der Freilegung eines kulturellen Zeugnisses. Er öffnet den Blick hinter das Funktionale und Institutionalisierte, bricht die stummen Pakte des institutionalisierten Zusammenlebens auf, die Rituale gesellschaftlich-ökonomisch begründeter Interaktion. Seine Poesie des Profanen macht bildhaft das konkrete Individuum sichtbar, schält selbst grafisch selektiv, den subjektiven Faktor aus den Verwaltungsakten heraus. So werden Geschäfts- und Verwaltungsformate zu künstlerischen Formen. Der Kontoauszug ist nicht mehr Beleg eines Zahlungsvorgangs, sondern eine offene Bilderzählung.
Sollte sich Kunst nicht darum sorgen, dass sie zunehmend zur kuratorisch gehypten Dekoration von »Diskurs«-Positionen wird? Dass sie aufgerieben wird zwischen sozialer Funktionalisierung, Kämpfen um Deutungshoheiten und dem Investment- und Schmuckverständnis des Finanzadels? Sandler gewinnt mit seiner Nachzeichnung einer Ausschreibung zwar nicht den Förderpreis der Boskamp-Stiftung, dafür aber den 44. Bremer Förderpreis für Bildende Kunst 2020. Er muss also vorerst keine Sorge haben, dass sich niemand um ihn kümmert. Somebody cares!
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