Artist Ausgabe Nr. 127

Portraits

Norman Sandler | Calla Henkel & Max Pitegoff | Moyra Davey | Teresa Burga

Interview

Hans-Peter Porzner

Page

Reinhold Budde

Edition

Karin Sander

Essay

Textauszug

»Kunst - Kultur«
Kulturelle Vereinbarungen sind systemrelevant und staatstragend. Kunst braucht dagegen nichts zu sein. Sie muss keiner Aufgabe nachkommen. Es steht ihr frei, Gefallen zu finden. Sie braucht keiner ästhetischen Anstalt zu entspringen und keine politische Auffassung befolgen. Sie bedarf keiner Prüfstelle. Sie muss keinesfalls für lebenswerte Zustände eintreten. Sie kann sich nicht entschuldigen. Sie darf nicht für vermeintliche Fehler der Geschichtsverläufe aufkommen, weil sie nicht selbst handelt. Sie kennt keine Fragezeichen. Fragen stellen wir. Betrachter*innen, Künstler*innen, Sammler*innen, Kurator*innen, Kritiker*innen und Soziolog*innen stellen Ansprüche an Kunst und gelegentlich an die Künstler*innen selbst. Kulturpolitiker*innen verhalten sich in Bezug auf künstlerische Fragestellungen recht verhalten. Warum? Sie sehen ihre Aufgabe darin, die in Artikel 5, Absatz 3 im Grundgesetz garantierten Freiheiten von Kunst und Wissenschaft mit kulturellen Rahmenbedingungen sicherzustellen. Künstler*innen erwarten von Kulturpolitiker*innen ein möglichst engagiertes und einflussreiches Handeln. Politiker*innen sollen auf die oft prekären Arbeits- und Lebensbedingungen aufmerksam gemacht werden und helfen, persönliche Lebensentwürfe abzusichern. Künstler*innen sind Bürger*innen. So müssen sie sich trotz der Möglichkeiten, die das Grundgesetz zur freien Meinungsäußerung und Freiheit von Kunst sowie Wissenschaft bietet, auch in Übereinstimmung zu anderen Verbindlichkeiten des Grundgesetzes und weiteren Gesetzgebungen verhalten.

Was ich hier und bei vielen anderen kulturpolitischen Aussagen vermisse, ist eine zeitgemäße Unterscheidung von Kunst und Kultur. Was versteht man unter Kunst und was unter dem Begriff Kultur? Macht es Sinn, beides in einem Atemzug nebeneinanderzustellen? Wäre es nicht sinnvoll, unter Kunst bzw. den Künsten das Differenzierende, das Singuläre, das Individuelle und das möglicherweise innovative Moment zu begreifen? Etwas, das bewusst / »KUNST – KULTUR« scheitern und sich auf der bürgerlichen Basis des Grundgesetzes auch gegen kulturelle Konsensvereinbarungen stellen darf. Wäre es nicht ebenso sinnvoll, unter kulturellen Rahmenbedingungen etwas die Gesellschaft Verbindendes zu verstehen, zumindest im Sinne einer gemeinsam funktionierenden Streit- und Debattenkultur? Ich denke an eine pluralistische Gemeinsamkeit kultureller Erfahrungshorizonte. Dann wäre es auch kein Widerspruch, wenn Menschen in Krisenzeiten und im Alltag den oft gepriesenen Trost in kulturellen Angeboten finden und einzelne Äußerungen der Künste trotzdem verstörend und irritierend daherkommen – als Probehandeln und Intervention innerhalb der Gesellschaft mit ästhetischen Mitteln. Der Prüfstand für Dauer wäre unsere kulturelle Vielfalt, die sich selbst in einem stetigen Wandel befindet.

Die Spielfelder der Dynamiken von Kunst und Kultur sollten meiner Meinung nach deutlicher unterschieden werden. In der Generaldebatte im Bundestag äußerte Monika Grütters, Staatsministerin und Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien am 30.09.2020: »Das ist, finde ich, das Mindeste, das wir Künstlerinnen und Künstlern schuldig sind; denn Kultur ist keine Delikatesse für Feinschmecker, sondern Brot für alle. (...) Kunst, Kultur und Medien sind unverzichtbar für Verständigung.«(2) Ich frage mich nun: Wäre es nicht eine große Chance zur besseren Verständigung und Gemeinschaftsfindung, wenn man verbindende kulturelle Elemente und stabilisierende Rahmenbedingungen von individuellen künstlerischen Produktionen sowie Strategien singulärer Äußerungen benennbar unterscheidet?

Roland Schappert