Artist Ausgabe Nr. 127
Portraits
Norman Sandler | Calla Henkel & Max Pitegoff | Moyra Davey | Teresa BurgaPortrait
EM Copperhead No. 34, 1990/2017, c-print on fujicolor crystal archive paper, 61 x 51 cm, Courtesy Galerie Buchholz, Berlin/Cologne/New York
Textauszug
Moyra DaveyZwischen 1996 und 2000 fotografiert Moyra Davey leere WhiskeyFlaschen, die so genannte »Bottle-Series«. Das Entstehen dieser Werkserie verdankt sich einem Zufall, auf dessen Gnade viele Künstler hoffen, ohne dass er ihnen je nennenswerte Überraschungen bescheren würde. Die 1958 in Toronto, Kanada, geborene und damals in Hoboken, New Jersey, lebende Davey, die heute zu den renommiertesten Foto- und Filmkünstlerinnen ihrer Generation gehört, aber wird von ihm beschenkt, als sie einen Kontaktbogen prüft. Sie entdeckt darauf ein Foto, das ihre Kamera rein zufällig aufgenommen hat, als Davey ohne jede Absicht den Auslöser bediente. Es zeigt eine leere Johnny Walker-Flasche, die schräg im Bild steht. Das Foto gefällt ihr auf Anhieb. Sie nimmt die Flasche neu wahr, die zu der Zeit Teil ihres Lebens ist, denn Davey hat ein Alkoholproblem. Sie mag das Bild nicht allein wegen seiner Form, sondern es wirkt auf sie auch wie eine visuelle Metonymie: Die Flasche scheint förmlich den Menschen zu repräsentieren, der sie leer getrunken hat und nicht mehr gerade auf seinen Beinen stehen kann. Die folgenden fünf Jahre fotografiert Davey leere Flaschen. Am Ende werden es 54 Bilder sein, kleine schwarzweiße Aufnahmen, die sie in einer strengen seriellen Ordnung präsentiert und in der die Flaschen im übertragenen Sinn wieder zu sich selbst kommen, sozusagen nüchtern werden. In sechs identischen Rahmen zeigt sie jeweils neun Bilder in drei Reihen zu drei Bildern.
Zwei Dinge sind hier festzuhalten. Zum einen die Bedeutung von Büchern und Autoren für das Leben und Werk von Moyra Davey. Immer kommt sie auf bestimmte Namen zurück, u. a. Walter Benjamin, Mary Wollstonecraft, Jean Genet and Chantal Akerman. Bei der Erwähnung von John Cheever spielt sicher auch ihre eigene überwundene Alkoholsucht eine Rolle, mit der sie nicht hinter dem Berg hält: »The drinking days pretty much behind me, it is the latter thought, the enigma of life lived versus the drive to reproduce it, that preoccupies me more, and continues to fascinate.« Zum anderen demonstriert die Wiederaufnahme der Werkserie, von seiner ersten Präsentation in einer Ausstellung bis hin zu seiner Fortentwicklung in einem Buch, dass die Themen, die Moyra Davey künstlerisch verhandelt, für sie nie endgültig abgeschlossen sind. Sie beschäftigen sie weiter. Und so können die schon entstandenen Werke auch zum Stoff und Thema weiterer Werke werden. In einem Gespräch hat sie das sehr schön zum Ausdruck gebracht. Gefragt, ob sie als Künstlerin vor allem das schon von ihr Gemachte (»made«) oder das noch zu Machende (»making«) schätzt, hat sie sich klar für Letzteres ausgesprochen.
Eine ähnliche Progression lässt sich auch bei einer anderen großen, noch früher entstandenen Fotoserie von Moyra Davey beobachten, den »Copperheads« aus dem Jahr 1990. Sie präsentieren das Profil des legendären Präsidenten Abraham Lincoln auf dem US-amerikanischen Penny und zeigen, wie durch langen Gebrauch der Münzen das Konterfei des Präsidenten allmählich abstrakt, unscharf und unwirklich wird und dabei förmlich verschwindet. Neuere Großformate desselben Motivs aus 2017, die selbst den kleinsten Kratzer auf dem Penny präzise ausleuchten, lenken die Aufmerksamkeit noch stärker auf ihren Abrieb, sodass das entstellte Konterfei des Präsidenten deutlich hervortritt. Wie von selbst lesen sich die Bilder, deren Aktualität mit der Zeit eher zu- als abgenommen hat, dabei in metaphorischer Weise. Vor allem zur Zeit der Präsidentschaft von Donald Trump lassen sich die mangelnde Kenntlichkeit Lincolns, der als Symbol amerikanischer Freiheitsrechte gilt, als Aufweichung der demokratischen Traditionen der Vereinigten Staaten und als Privilegierung einer autoritären Rechtsbewegung verstehen.
Einen politischen Subtext entwickeln die »Copperheads« auch, als Davey sie im selben Jahr als »Mailer« an den Frankfurter Portikus, den Bielefelder Kunstverein und die Galerie Buchholz schickt, wo sie in Blöcken präsentiert werden. Die entfalteten Umschläge verstärken das Thema der Abnutzung noch durch die Art ihrer Präsentation. Vor allem das Porto hat die Künstlerin mit Vorbedacht ausgewählt. Wenn der Betrachter auf den Briefmarken afroamerikanische Ikonen wie Jimi Hendrix und Sarah Vaughan sieht, wird unübersehbar deutlich, wie sehr Davey ihre Bilder als Kommentar zum wachsenden Rassismus in den USA verstanden wissen will.
Ganz anders strukturiert als die Trilogie ist ihr Videofilm »My Saints« (2014). Er ist gegenwärtig in der hannoverschen Kestner Gesellschaft zu sehen im Rahmen einer kleinen lohnenden Ausstellung, die der neue Direktor des Hauses, Adam Budak, der renommierten, in Deutschland indes wenig bekannten Moyra Davey gewidmet hat. Der Protagonist von »My Saints« ist der Dichter Jean Genet (1910-1986). Worauf bereits der ambivalente Titel des Werks hinzuweisen scheint. Er lässt einerseits an die umstrittene Monografie des Philosophen JeanPaul Sartre über Genet denken mit dem Titel »Saint Genet, Komödiant und Märtyrer«. Andererseits sind die »Saints« aber auch die von Davey verehrten Künstlerinnen und Künstler, mit denen sie sich in Ihrem Werk auseinandersetzt und zu denen Genet gehört. Aber nicht sie ist es, die in diesem ebenso berührenden wie klugen Kunstwerk aus fotografischen Aufnahmen, filmischen Sequenzen und Textbausteinen das Wort ergreift, auch wenn sie seine Autorin ist. Sondern Freunde, Bekannte und Verwandte, die sie eingeladen hat, anhand der Lektüre von Genets autobiografischem Roman »Tagebuch eines Diebes« über den homosexuellen und kriminellen Dichter nachzudenken und über ihn zu sprechen
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