Portrait
»Vanishing Points. 2014 – 2020«, Ausstellungsansicht Reiter | Leipzig 2021, Foto: dotgain.info, Courtesy der Künstler und Reiter Leipzig | Berlin
Textauszug
Ibrahim MahamaDas Rockefeller Center steht wie kaum ein anderer prominenter New Yorker Gebäudekomplex für den Reichtum eines weit verzweigten Familienclans, der sein Vermögen zu einem nicht unerheblichen Teil mit Rohstoffen wie Kohle und Öl gemacht hat. Obwohl längst nicht mehr im Besitz der Familie, bringt das im Art-déco-Stil errichtete Ensemble aus 20 repräsentativen Gebäuden nach wie vor den Macht- und Herrschaftsanspruch eines stark diversifizierten Firmenkonglomerats zum Ausdruck, das bis heute in der ganzen Welt Geschäfte betreibt. Die bei Touristen als Fotomotiv beliebten 192 bunten Flaggen aus aller Herren Länder rund um die berühmte Schlittschuhbahn tragen nicht unerheblich dazu bei.
Der ghanaische Künstler Ibrahim Mahama wurde im Rahmen der Frieze Sculpture 2019 eingeladen, diesen prominenten Ort für zwei Monate mit seiner postkolonialistisch und emanzipatorisch aufgeladenen Flaggeninstallation zu bespielen. Es handelte sich zugleich um seine erste Arbeit, die in den Vereinigten Staaten im öffentlichen Raum gezeigt wurde. Gebrauchte Jutesäcke, die in Südostasien produziert werden und in rohstoffreichen Ländern wie Ghana zum Verpacken von Kakao, Kaffee, Reis, Bohnen und Holzkohle für den Export nach Amerika und Europa verwendet werden, betrachtet er als symbolische Platzhalter beziehungsweise »forensische Beweismittel« für die auf Ausbeutung beruhenden Mechanismen des Welthandels. Dem fragilen Material eingeschrieben sind sozusagen der Schweiß, die Mühen und Anstrengungen derjenigen, die sie einst produziert, bedruckt, befüllt, geschleppt, gereinigt, neu befüllt und zum Schluss für seine Kunst zu Fahnen vernäht haben. Gleichzeitig aber verfügt das in der jüngeren Vergangenheit bereits von Arte-Povera-Künstlern wie Jannis Kounellis in den Kunstkontext eingeführte Material auch über eine hohe ästhetische Qualität, verströmen die erdigen Farben doch durchaus eine gewisse Wärme. Zudem reizen die ganz unterschiedlichen, teils nostalgisch wirkenden Aufdrucke die Betrachter*innen zum Lesen und Entziffern. Der ursprünglich als Maler ausgebildete Ibrahim Mahama scheint sich der Verführkraft und Ambivalenz dieses unorthodoxen Werkstoffs bewusst zu sein, versteht er ihn doch in all seiner Widersprüchlichkeit immer wieder hochästhetisch zu arrangieren. Ortswechsel: In der Leipziger Galerie Reiter zeigt Ibrahim Mahama noch bis zum 11. September 2021 seine erste Einzelausstellung in einer deutschen Galerie: »Vanishing Points« (2014-2020). Sie versammelt 100 Schubkarren, denen man sofort ansieht, dass sie jahrelang im Einsatz gewesen sein müssen. Rost, abplatzende Farbe, Beulen, Erde, Staub, Gummireifen fast ohne Profil oder ganz zerfetzt, Holzgriffe, die vollkommen zerschlissen sind, Spuren notdürftiger Reparaturen. Erhalten hat Mahama diese Schubkarren im Rahmen eines Tauschgeschäfts. Er stellte Arbeitern in seiner Heimat nagelneue Exemplare zur Verfügung und erhielt dafür die ausgedienten. In der Galerie Reiter hat er sie jetzt in ganz unterschiedlichen Konstellationen arrangiert: einzeln, in kleinen Gruppen, als Reihung an der Wand entlang oder ineinander verkeilt als stapelförmige Akkumulation in einer Raumecke.
Trotz aller industriellen Genormtheit strahlt jedes der 100 Exemplare so etwas wie Individualität und geschichtliche Aufladung aus. So zum Beispiel eine Schubkarre mit der Aufschrift »For Rent« samt Telefonnummer. Eine andere verrät anhand der Prägung »Germany« ihren ursprünglichen Produktionsort. Der Boden der Ausstellungsräume ist zudem bedeckt mit zwölf Tonnen einer gelblichen Mischung aus Erde, Sand und Geröll aus dem Leipziger Umland. Sie könnte ebensogut auch aus Afrika stammen. Ein klassischer White Cube sieht anders aus. Die rein formale Anknüpfung an Traditionen der Land Art und Earth Art ist auf den ersten Blick offensichtlich. Künstler wie Robert Morris, Robert Smithson und insbesondere Walter de Maria stellten bereits in den 1960er Jahren die weiße Sterilität von Galerieräumen durch das Einbringen von Erde auf den Prüfstand. Ibrahim Mahama geht es aber weniger darum, die Betrachter*innen mit einem archaisch aufgeladenen »Urstoff« (Monika Wagner) spirituell zu überwältigen, sondern vielmehr um eine wesentlich aktuellere Materialsemantik, die auf den Themenkomplex Arbeit und Exploitation von Mensch, Natur und Umwelt abzielt.
Ibrahim Mahama lud zum Auftakt der documenta 14 Freiwillige ein, zusammen mit ihm auf dem zentral gelegenen Syntagma-Platz in Athen drei Stunden lang Jutesäcke mit grober Nadel zusammenzunähen. Mehrere ähnliche Performances beziehungsweise Aktionen, ebenfalls mit dem Publikum als Co-Autor*innen, fanden dann im Vorfeld und während der gesamten Laufzeit der documenta 14 in den Kasseler Henschelhallen, einem ehemaligen Produktionsort für Lokomotiven, aber auch Rüstungsgüter aller Art, statt. Mahama zeigte während der documenta 14 an der Torwache in Kassel die Installation »Check Point Sekondi Loco. 1901–2030. 2016–2017« (2016–17) aus gebrauchten Kohlesäcken, Altmetall, Planen, Metallanhängern und Leder aus dem Inneren einer Henschel-Lok. Mit Jute beziehungsweise Kohlesäcken verhüllte er bereits zahlreiche Gebäude wie Theater, Museen, Ministerien oder Wohnhäuser. Im Rahmen des Ausstellungsprojekts »Kunst & Kohle« bedeckte er zum Beispiel im Jahr 2018 auch Teile der Fassade eines barocken Wasserschlosses in Herne mit vernähten Jutesäcken. Die Arbeit trug den Titel »Coal Market«. Zu Mahamas documenta-Arbeit äußerte sich der in Berlin lebende kamerunische Kurator Bonaventure Soh Bejeng Ndikung im »documenta 14: daybook« folgendermaßen: »Man kann die Politik der Räume durchkreuzen und unterlaufen, indem man den Räumen neue Formen und Bedeutungen aufzwingt oder sie ihrer intendierten Sinngehalte beraubt. Ibrahim Mahamas Einhüllen von Gebäuden in Stoff lässt sich am besten in diesem Kontext verstehen.«
Mit der von ihm in Tamale gegründeten Kunstinstitution The Savannah Centre for Contemporary Art (SCCA) und dem damit assoziierten Red Clay Studio hat Ibrahim Mahama in seiner Heimatstadt einen unabhängigen Ort geschaffen, der einerseits als Ausstellungsplattform, aber daneben auch als Ort des Archivierens, der künstlerischen Erforschung und Vermittlung sowie als Residencyfür Künstler und Theoretiker aus Ghana, Afrika und dem Rest der Welt dient. »Ich bin ein Künstler, der in Afrika arbeiten möchte. Ich habe genug davon, Arbeiten zu produzieren, die dann als Konsumwaren nach Europa oder Amerika exportiert werden. Ich möchte vielmehr einem lokalen Publikum die Gelegenheit geben, Kunst aus Ghana zu sehen und darin seine eigenen Erfahrungen nachzuerleben«, so Mahama 2019 gegenüber der Londoner Tageszeitung The Guardian.
Ein zentraler Begriff, der Ibrahim Mahamas Denk- und Arbeitsweise, aber auch das gesamte Projekt »Existing Otherwise« charakterisiert, ist das »Re-Schooling«. Mahama versteht darunter die grundsätzliche Offenheit für neue Formen des Denkens, der Imagination, der Produktion und Vermittlung von Kunst. Im Zentrum steht dabei für ihn nicht mehr das eine »heilige Objekt«, das aus dem Studio des genialisch begabten Künstlers kommt, sondern die Aktivierung des gesamten Umfelds, das gegenseitige Voneinanderlernen, die konsequente Infragestellung tradiertern Besitzverhältnisse und die kollektive Produktion neuer Narrative und Kunstwerke, die sowohl ethisch als auch nachhaltig und klimaverträglich sind. Wiederum gegenüber dem Londoner The Guardian äußerte er sich 2019 so: »Ich bin kein einsam vor sich hinarbeitender Künstler, sondern Teil einer Gemeinschaft. Und ich stelle mir eine Kunst vor, die Veränderung möglich macht, statt einfach nur schöne Konsumwaren für den Verkauf zu produzieren. Vielleicht macht genau das den Unterschied aus – mein Werk schwimmt sich frei von europäischen Traditionen.«
Sie wollen mehr? Dann bestellen Sie doch direkt diese Ausgabe
> bestellen