vergriffen
Artist Ausgabe Nr. 112
Portraits
Michael Kienzer | Michaela Meise | Liz MagorInterview
Hajo Schiff u. Raimar StangePage
Stefanie von SchroeterEssay
Roland SchappertAusstellungen
La Biennale di Venezia 2017Edition
Katja AuflegerInterview
Olu Oguibe, »Das Fremdlinge und Flüchtlinge Monument«, 2017, Beton, Königsplatz, Kassel, documenta 14, Foto: Michael Nast
Textauszug
Hajo Schiff u. Raimar StangeJ.Krb.: Damals: massiver Bürgerprotest und öffentliche Empörung. Heute: Begeisterung vom Stadtkämmerer über Politiker bis Banker. Seien es die drei Tonnen schweren Billardkugeln von Claes Oldenburg 1977 zum ersten Skulptur Projekt Münster, sei es das Projekt »7000 Eichen Stadtverwaldung statt Stadtverwaltung« von Joseph Beuys 1982 zur documenta, seien es die drei voluminösen Nanas - farbenfrohe weibliche Körper aus Polyester - von Niki de Saint Phalle, die 1974 am Leibnizufer der Leine in Hannover aufgestellt wurden. Ist es der Lauf der Zeit, dass die Provokation ermüdet, die Avantgarde ihren Biss verliert, klassisch wird oder gar aus unserem kulturellen Gedächtnis verschwindet?
R.S.: Ja, auch der Punk ist in die Jahre gekommen. Formen und Inhalte werden nun einmal »alt wie ein Baum« (Puhdys), sie überraschen dann nicht mehr, wiederholen sich, zumal es nur ein relativ begrenztes Repertoire an Formen in der Kunst gibt, und langweilen im schlimmsten Fall, statt provokativ zu sein. Entscheidender aber ist: Sie können so vor allem auch nicht mehr adäquat die sich ändernden Kontexte reflektieren, in denen Kunst entsteht und über die sie u. a. nachsinnen. Genau dann ist Kunst nicht mehr kritisch, sondern affirmativ und dekorativ. Aber das Leben geht ja bekanntlich weiter, genau wie das Kunstmachen und Kuratieren auch, und beides findet immer wieder überraschende und überzeugende Arten und Weisen sich der Realität künstlerisch zu stellen. Diese Arten und Weisen aber haben nicht unbedingt »provokativ« daherzukommen, um »avantgardistisch« oder »bissig« zu sein, selbst die Haltung des »Einverstandenseins« bietet unter Umständen kritisches Potential.
H.S.: Es gibt eine große neue Indifferenz. Unspektakuläres wird übersehen, Spektakuläres als Selfie-Hintergrund genutzt. Und mit der Aufsplitterung in über 40 Spielorte in Athen, Kassel und Münster und noch viel mehr in Venedig, ergibt sich schon deshalb keine Provokation, weil ja jedem etwas nach seinem Geschmack geboten wird, das er sich für einen angenehmen Rundgang selbst zusammenstellen kann.
.Krb.: Adam Szymczyk und sein Team stehen für einen Paradigmenwechsel kuratorischer Tätigkeit. Nicht die Kunst als ästhetisches Feld ist Ausgangspunkt ihrer kuratorischen Überlegungen, sondern der Zustand der Welt mit ihren vielfältigen Problemen und Verwerfungen. Sind sie die neuen Stars des Kunstbetriebs, Intellektuelle neuen Typs oder Aufklärer, die über den Zustand der Welt räsonieren. Ist dieser Ansatz kuratorischen Selbstverständnisses angesichts der aktuellen Weltlage sinnvoll oder ein möglicher unter anderen Ansätzen?
R.S.: Ich sehe keinen Paradigmenwechsel: Den »naiven« Kurator hat es, wie auch den »naiven« Künstler, nie gegeben und den »Zustand der Welt« haben gute Kuratoren und Künstler immer mit reflektiert. Die Selbstdarstellung der Kuratoren ist sicherlich eine andere geworden, und auch die Art und Weise wie man heute bei solchen Großausstellungen kooperativ im Team arbeitet, statt als genialer »Über-Kurator« wie Harald Szeeman oder Rudi Fuchs zu agieren. Aber einen tatsächlichen Paradigmenwechsel kann ich wirklich nicht ausmachen.
H.S.: Vielleicht ist das gar nicht so neu. Wir erleben allerdings eine ständige Steigerung des Theoriezugriffs. Das hat mit der Verschulung der Kunstakademien zu tun und mit Akademisierung der Kunstvermittlung selbst. Leider führt das auch zu banalen Wortwolken und teils zu Konstruktionen geradezu grotesker Zusammenhänge. Theorie sollte nicht zum Selbstzweck werden. Im Kunstbereich geht es um Vergegenständlichung, nicht bloß um theoriekonforme Dingzitate.
J.Krb.: Themen wie Kolonialismus, Migration, Restitution, Sklaverei, Nationalsozialismus, Neoliberalismus und dergleichen stehen im Zentrum der documenta.Die Kunstkritik scheint sich schwer zu tun mit Kunst, die sich thematisch politisch orientiert und legt sich mächtig ins Zeug. Geht es darum, politische Kunst generell in Frage zu stellen und die Kunst als ästhetisches Feld absolut zu setzen? Populistische Urteile »Gut gemeint, schlecht gemacht« werden der documenta nicht gerecht. Differenzierte Stellungnahmen finden wir zu selten, stattdessen dominieren polemische Zuspitzungen und verbale Kraftmeierei. Was ist politische Kunst, in welcher Weise transportiert sie politische Botschaften, wie ist das Verhältnis von Form und Inhalt zu bestimmen?
H.S.: Das ist sicherlich die Kernfrage. Als jemand, der ursprünglich von der Kunsthochschule kommt, würde ich am liebsten sagen, das sollen nicht Kritiker und Kuratoren, sondern die Künstler selbst beantworten. Und zwar Künstlerinnen und Künstler, die im und mit dem politischen Feld arbeiten, ohne Auftragskünstler der Macht oder Sozialdienstleister zu sein. Soweit so einfach. Aber was ist denn das »Politische«? Staatsaffären oder Nachbarschaftsaktivitäten, Ökonomie oder Bildung, Altenpflege oder Gartenpflege? Oder bloß alles, was in Deutschland zwischen 1933 und 1945 geschehen ist? Von Athen lernen heißt auch hier das große Ganze bedenken: Politeia bezeichnet den Staat und so heißt das Buch des Platon, Politika sind alle Dinge, die das Gemeinwesen betreffen und so heißt das staatsrechtliche Buch des Aristoteles. »Politische Kunst« ist also trotz ihrer scheinbaren Griffigkeit doch eine alles und nichts umfassende Leerformel. Schon allein die Farben Rot oder Blau können politisch sein – die einzigen monochromen Gemälde in Athen tauchen da ja auch als Studien für eine neue Flagge der Sami auf. Die völkerkundlichen Präsentationen von Sami-Stickereien und Kwakwaka’wakw-Geister-Masken, von Amazonas-Fischreusen und bemalten Sorben-Eiern, Romuald Karmakars Vergleich von griechisch-orthodoxer und russisch-orthodoxer Gesangsinterpretation und seine Auflistung der Daten zur abendländischen Geschichte, der Nachbau der sklavenbetriebenen Münzprägemaschine... – die documenta kommt in vielen Teilen wie ein kulturgeschichtliches Fachmuseum daher und findet ja auch deshalb gut Anschluss an die jeweiligen Museen vor Ort. Nur sind diese besser inszeniert. Leider allzu oft ist ein Artefakt dann vor allem bedeutend aufgrund eines in ihm selbst nicht ersichtlichen Zusammenhangs: Die Zeichnung ist von einem ehemaligen Bundespräsidenten, der Künstler oder sein Werk hatten ein besonderes Schicksal, das Objekt verweist auf eine zu lobende oder zu tadelnde Kultur oder Kulturpraxis.
R.S.: Politische Kunst ist immer vor allem auch inhaltlicher Natur. Und gerade damit scheinen sich viele Kunstkritiker überaus schwer zu tun, fordern sie doch so etwas wie eine »Rückkehr zur Form«, so z. B. Kolya Reichert und Ingo Arend. Letzterer spielt in der Schweizer Wochenzeitung WOZ, die »ästhetische Form« gegen die »politische Aussage von Kunst« aus. Das ist allein schon deswegen Unsinn, weil dieser vorschnell behauptete Gegensatz schlichtweg übersieht, dass auch politische Kunst immer, wenn sie gut ist, sehr wohl sehr präzise mit formalen Fragen umgeht. Nehmen wir etwa die dieses Jahr mit dem Arnold-Bode-Preis ausgezeichnete Skulptur »Das Fremdlinge und Flüchtlinge Monument« von Olu Oguibe. In vier verschiedenen Sprachen, arabisch, türkisch, englisch und deutsch, hat der Künstler die nachdenkliche Sentenz »Ich war ein Fremdling und Ihr habt mich beherbergt«, ein Ausspruch von Jesus Christus im Matthäus-Evangelium, auf einem Obelisk, der mitten im Zentrum von Kassel steht, ganz im Sinne Sartres in Worte gefasst. Und diese angesichts der Flüchtlingskrise zur Empathie und Nächstenliebe aufrufende FORMulierung dann gleichzeitig mit einer präzise ausgesuchten Form in einen Dialog gebracht, eben mit der Form des Obelisken. Der Obelisk nämlich ist hier als explizites Gegenbeispiel von einem empathischen Umgang mit dem Fremden zu verstehen, wurden die Obelisken doch seit den Tagen der alten Römer aus ihrer »Heimat« Nordafrika von unterschiedlichsten europäischen Kolonisatoren entwendet, um dann als Zeichen ihrer Macht in Europa symbolträchtig aufgestellt werden zu können. Das bürgerliche Feuilleton der FAZ, Die Zeit und Welt befürchtet außerdem ständig, die Kunst würde ihre Autonomie verlieren, wenn sie politisch würde. Eine autonome Kunst ist eine, nachzulesen z. B. in Peter Bürgers »Theorie der Avantgarde«, die frei ist von Zwängen, die durch politisch Herrschende, die Kirche oder andere gesellschaftliche Kräfte ausgeübt wird. Diese Unabhängigkeit, und nicht eine hehre Zweckfreiheit, macht Kunst tatsächlich zu einer »freien Kunst«. Politische Kunst, die »etwas will«, etwa die Arbeit des »Zentrum für politische Schönheit«, ist in genau diesem Sinne autonom und viel freier als manch ästhetische Galeriekunst, die heute zunehmend den Zwängen des neoliberal-globalisierten Marktes unterliegt.
J.Krb.: Werden Orte wie documenta-Halle, Fridericianum, Neue Galerie, Neue Hauptpost von der jeweiligen Thematik schlüssig bespielt oder ufert das kuratorische Konzept in Beliebigkeit aus?
R.S.: Anders als in Athen gibt es in Kassel tatsächlich eine thematische Strukturierung: In der Neuen Galerie etwa geht es um deutsche Geschichte, ihre Tabuisierungen und Nachwirkungen bis heute. Im Fridericianum wird die bisher noch nie gezeigte Sammlung des Griechischen Nationalmuseums für zeitgenössische Kunst (EMST) gezeigt, im Palais Bellevue stehen u. a. gewaltsame Konflikte im Kontext von (kolonialistischen) Territorialfragen im Mittelpunkt, in dem Grimmwelt-Museum das Verhältnis von (Märchen-)Literatur und gesellschaftlichem Bewusstsein. In der documenta-Halle dann geht es um die Dialektik von Notation und Aufführung, die dort, frei nach Walter Benjamin, immer wieder auch als die Ästhetisierung des Politischen verstanden wird. Im öffentlichen Raum Kassels schließlich werden, u. a. mit der eben beschriebenen Arbeit von Olu Oguibe, die Optionen eines kritischen Populismus erprobt. Gab sich die documenta in Athen quasi als Collage ohne all zu offensichtlichen Sinnzusammenhang, so versucht die Ausstellung in Kassel jetzt also den entgegengesetzten Weg zu gehen - und wie man weiß „»führen viele Wege nach Rom«.
H.S.: Speziell in den vier Hauptspielorten war die Zusammenstellung in Athen leider weitgehend beliebig. Das ist in Kassel anders, in den Zuordnungen zu den mitspielenden Museen der Museumslandschaft Hessen-Kassel sogar geradezu wortwörtlich (Textarbeiten in die »Grimmwelt«). In der Neuen Galerie ist das Konzept sogar so stark, dass es die Kunst weitgehend erdrückt und die Bilder und Objekte zu bloßen Stichwortgebern herabwürdigt. Sehr hübsch haben die griechischen Kuratoren auch das Fridericianum arrangiert. Nur hat das ja abgesehen von der Geste der Überlassung an die Sammlung des Athener EMST rein gar nichts mit der documenta zu tun.
J.Krb.: Gibt es nicht nur in der Politik, sondern auch in der Kunst eine Sehnsucht nach einfachen Wahrheiten, eine Sehnsucht moralisch richtig zu liegen. Ist vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Probleme und Konflikte ein kritischer, leidenschaftlicher, »linker« Populismus in der Kunst vonnöten?
R.S.: Ich denke, ein linker Populismus ist dringend nötig. Der desas-trösen »Twitter-Politik« eines Donald Trump, der es gelungen ist, die Mechanismen einer kritischen Presse auszuhebeln, ist nicht nur mit gut gemeinter Aufklärung beizukommen. Populismus darf dann aber nicht falsch verstanden werden als ein Propagieren von »einfachen Wahrheiten«, sondern sollte leisten, was u. a. bereits Chantal Mouffe und Alain Badiou gefordert haben: die Form einer klugen, allgemeinverständlich diskutierten und sozial verantwortlichen Politik, die Leidenschaften und engagiertes Streiten nicht zugunsten einer anonymen, vornehmlich von Bürokraten und Lobbyisten gemachten Politik aufgibt. Letzteres nämlich führt schnell und gerade jetzt zu Demokratieverdrossenheit und falschen Konsensvorstellungen. Und dieses spielt letztlich den Rechtspopulisten in die Karten.
H.S.: Ich finde die mit leicht beleidigtem Gestus die Übel dieser Welt versammelnde documenta von Adam Szymczyk in weiten Teilen sehr linkspopulistisch, insbesondere dann, wenn in der Neuen Galerie geschichtsrevisionistische Überlegenheiten ausgespielt werden, so im Thema Kolonialismus, gegenüber der Romantik oder der ganzen Familie Gurlitt.
J.Krb.: Sicherlich erfüllt die documenta nicht die Ansprüche ihres künstlerischen Leiters nach einer besseren Welt. Da bedarf es mehr als Kunst. Aber was bleibt von der documenta 14? Leitet sie einen Perspektivwechsel ein, ist die Welt der Kunst nur noch global zu betrachten, ist unser bisheriger Wertekanon zur Beurteilung von Kunst zu modifizieren, gar über Bord zu werfen, oder können wir uns zurücklehnen und alles beim Alten belassen oder gibt es nach dieser politisch ausgerichteten documenta eine Rückbesinnung auf L‘art pour l‘art, eine Rückbesinnung auf ästhetische und formale Fragestellungen?
R.S.: Was von der documenta 14 bleibt, wird natürlich erst die Zukunft zeigen. Die Erfahrung der letzten Jahrzehnte jedoch zeigt, dass eine documenta oftmals zunächst scharf kritisiert wird, später dann aber langsam doch nachhaltigen Einfluss auf die Entwicklung des Ausstellungmachens hat. Genau diese Erfahrung ist ja auch ein Grund für die derzeit so heftige Ablehnung durch die bürgerliche Presse: Man sieht dort zu Recht die eigenen Felle davonschwimmen.
H.S.: Den Perspektivwechsel gab es seit Catherine David und vor allem Okwui Enwezor. Es muss aber darauf beharrt werden, dass die Kunst das Politische in der ihr angemessenen Weise im Symbolischen abhandelt. Museumsrochaden mit anderen Ländern, die Verlagerung einer Aufgabenstellung in andere Länder oder gar Kontinente kann einem als Theoretiker zwar in den Sinn kommen, geht aber an der Aufgabe, an einem Ort der Welt über die Welt und ihre Kunst nachzudenken weit vorbei. Politische Aktivität im unmittelbaren, alltagspolitischen Sinne schadet der Kunst. Sie ist zudem unehrlich, da sie sich der realen Konsequenzen mit dem Verweis auf Kunst bei Bedarf schnell wieder entziehen kann. In Zeiten, in denen in der Politik hemmungslos gelogen wird, gilt es nicht mit kreativen Fiktionen der Kunst auch mitzuspielen, sondern geht es vor allem darum, mediale Aufklärung zu betreiben und die Wirkmechanismen von Bildern zu erläutern. Die Wahrnehmungsschulung der Kunst und ihr Freiheitsangebot ist eine selbst schon durchaus politische Kernkompetenz der Kunst, nicht der unmittelbare Eingriff in die Politik. Nicht anlässlich von Kunst auf etwas hin argumentieren, sondern in und mit der Kunst die Themen bearbeiten, damit diese nicht aktionistisch direkt, sondern über die Wahrnehmenden indirekt die Welt verbessern, das ist die Aufgabe. Dabei sind Film und Video in allen ihren Varianten letztlich von wohl kaum mehr zu leugnender Überlegenheit – auch wenn sie in einer Ausstellung aufgrund ihrer medienspezifischen Verlaufsform und Dauer stets problematisch bleiben.