vergriffen

Artist Ausgabe Nr. 98

Portraits

Brian Jungen | Roni Horn | Alicja Kwade | Eva Hesse

Interview

Reinhard Spieler

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Christian Holtmann

Ausstellungen

»Das Beste vom Besten«

Portrait

Blanket No. 2, 2008, Profi-Sporttrikots, 134,6 × 130,8 cm, Privatsammlung, London

Textauszug

Brian Jungen
Ein Totenkopf auf den ersten Blick, der zweite erkennt, dass es sich um die Haut von zusammengenähten Base- und Softbällen handelt. Auf diesen Bällen sind bei noch genauerem Hinschauen handschriftlich aufgetragene Vornamen zu erkennen, man hat sich mit dem Sportgerät offensichtlich irgendwie identifiziert. Die Skulptur »Skull«, 2008-2009, von Brian Jungen bringt so (tote) Natur und moderne Kultur, Massenprodukt und individuelle Haltung in einen spannenden Dialog.

Doch zunächst ein kurzer theoretischer Exkurs: »Identität entsteht nicht quasi-biologisch durch Entfaltung eines Personenkerns, sondern im wörtlichen Sinn durch Identifikation«, schreibt Wolfgang Welsch in seinem wichtigen Aufsatz »Identität im Übergang« (1990). Und er erklärt in bester postmoderner Tradition: »Substanz, das traditionelle Modell, ist vollständig durch Attribute bzw. durch eine Vielzahl externer Wirklichkeiten und Rollen ersetzt«.Wolfgang Welschs Betonung der zentralen Relevanz von Identifikation im Prozess der Identitätsfindung und -bildung aber emanzipiert den Menschen nicht nur von seiner vermeintlichen Gebundenheit an so etwas wie »Natur«, sie hat auch ihre durchaus problematischen Seiten.

Da liegt z. B. die Arbeitsgruppe »Blanket«, 2008, auf weißen Sockeln im Bonner Kunstverein ausgebreitet. Diese Decken bestehen aus American Football-Trikots, genauer: aus Trikots, die als Fanartikel längst nicht nur in Amerika verkauft werden. Diese stehen also für einen globalisierten Markt, der wohlfeile Angebote für die von Wolfgang Welsch ins Spiel gebrachten Attribute macht, Attribute, die dem meist männlichen Käufer ermöglichen sollen seine Identifikation mit einer Football-Mannschaft auszudrücken und dabei auch seine Sympathie mit dem kapitalistischen »american way of life« zu betonen. Die Rückennummern auf diesen Trikots, schon Klaus Theweleit hat in seinem »Buch der Könige« (1994) in Hinsicht auf Andy Warhol darauf hingewiesen, machen den sie tragenden Menschen zudem zu einem abgezählten Teil einer Serie, der »Serie der Stars« (Theweleit), die in »unserer« kapitalistischen Wettbewerbsgesellschaft zu einer identifizierenden Vergötterung anstiften soll.

Brian Jungen aber durchkreuzt mit seiner Arbeit dieses scheinbar attraktive Ansinnen dadurch, dass er seine »Blankets« in einer für die indigene kanadische Bevölkerung typischen Webart, die er extra für diese Arbeit selbst erlernt hat, herstellt. Die Trikots werden so zu einer flachen, scheinbar folkloristischen Auslegeware - was eben auch bedeutet, dass sie von ihrem Besitzer zwar tatsächlich besetzt werden können, sie aber nicht mehr angezogen als zweite Haut dienen. Die Verkörperung der Rolle des Fans kann also mit den »Blankets« nicht geleistet werden. Auch besagte Rückennummern sind jetzt kaum noch zu erkennen, eine schnelle Erkennbarkeit ist daher ausgeschlossen. Wichtig vor allem aber ist, dass die US-amerikanische und die indigene Kultur sich hier gleichberechtigt, widerstrebend und vereint zugleich, gegenüberstehen. Gleichsam als kulturelles Hybrid stellt diese Arbeitsgruppe eine wohlkalkulierte »Ästhetik der Vielfalt« vor, wie es der wegweisende Theoretiker des Kreolismus Edouard Glissant einmal bezeichnet hat. Und in dieser multikulturellen »Ästhetik der Vielfalt« wird Identitätsbildung zu einem vielschichtigen Prozess mit offenem Ausgang.

Raimar Stange