vergriffen
Artist Ausgabe Nr. 89
Portraits
Jordan Wolfson | Marina Steinacker & Katharina Willand | Julia Lazarus | Markus SchinwaldInterview
Hans-Jürgen HafnerPage
Sonja RentschPolemik
Raimar StangeAusstellungen
»Farbe im Fluss«Künstlerbeilage
Stefan PanhansEdition
Tillmann TerbuykenAusstellung
Rainer Splitt, Farbguss, 2011, Pigment und Polyurethan, variable Maße, Installation Weserburg | Museum für moderne Kunst, Court
Textauszug
»Farbe im Fluss«Während Warhols Urin-Getröpfel Factory-Happenings zwischen Respekt und Rebellion dokumentiert, verwandt mit Tony Tassets Farbspuck-Foto »Spew« oder Kristof Kinteras Wand durchbrechendem Strahl »Red Is Coming«, erinnert Max Ernsts »L‘année 1939« aus dem Jahr 1943 an Lehrstunden. Der deutsche Surrealist, der Grattagen und Frottagen für seine visionären Bildfindungen nutzbar zu machen suchte, ließ Farbe auf eine Leinwand tropfen, aus einer Dose, die er in Pendelbewegungen versetzt hatte. Pollock lernte diese »Oszillation« im Atelier von Max Ernst kennen, wie der Bremer Kunsthistoriker Guido Boulboullé in seinen höchst lesenswerten Werkerläuterungen im Katalog anmerkt. Als weitere Ahnherren eines künstlerisch instrumentalisierten freien Farbflusses bietet die Schau Willi Baumeister, Franz Krause und Oskar Schlemmer auf, die in den 1940er Jahren in einer Lackfabrik mit Malmitteln und Trägermaterialien experimentierten.
Der Besucher findet solche Verweise und Korrespondenzen über die gesamte Ausstellungsfläche verteilt, keine lineare Stringenz wird behauptet, sondern ein offenes Netzwerk von Referenzen angeboten, das unterschiedlich geknüpft werden kann. Verwandtschaften und Bezüge, Hinführungen und Folgen lassen sich in verschiedenen Richtungen verfolgen.
In Anbetracht dieses offenen Systems von Korrespondenzen und Referenzen der »Farbe im Fluss« stellt sich die Frage nach Entwicklung, aktuellem Stand und Perspektiven als Auftrag an den Betrachter. Damit knüpft das Ausstellungskonzept an eine ästhetische Strategie an, auf die Raimar Stange in seinem Katalogbeitrag mit der Erinnerung an Umberto Ecos Begriff des »offenen Kunstwerks« verweist. Verzicht auf Vollendung, Mehrdeutigkeit, Beweglichkeit schafft seit den 1950er Jahren eine dynamische Beziehung zwischen Werk und Betrachter. Informel und abstrakter Expressionismus verzichten in Subjektivität und All-Over auf Autorität und Zentralperspektive, reichen Freiheit, Wahlmöglichkeit und Mitautorenschaft an das Publikum weiter. Den impliziten politischen Charakter dieser Kunst nutzten Apologeten der westlichen Welt im Kalten Krieg als Propaganda für Individualität in der Massenkonsumgesellschaft.